Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Tilman Mayer

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Название Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts
Автор произведения Tilman Mayer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711446935



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Staatsmann Deutschlands. Auch in seinen politischen Vorstellungen, die stärker von Aufklärung und Französischer Revolution geprägt waren, als seine ersten politischen Reden und Handlungen vermuten ließen. Er galt lange als Reaktionär und benahm sich auch so. Aber 1866, nach dem Sieg bei Königgrätz, hat er den Parlamentarismus in Preußen nicht vernichtet, wie seine damaligen Freunde es erwarteten, sondern den Staat, die Monarchie und sich selbst mit ihm versöhnt. Er hat im Norddeutschen Bund und im Deutschen Reich das gleiche Wahlrecht durchgesetzt, als es in vielen anderen Ländern noch längst nicht gang und gäbe war. Das brachte ihm die Feindschaft der deutschen Konservativen ein und ein Bündnis mit dem deutschen Liberalismus, das über ein Jahrzehnt fruchtbringend war. Seine parlamentarischen Abende mit Abgeordneten waren seinerzeit legendär, seine Gespräche mit Journalisten und Publizisten sind bis heute ein Genuss. Otto von Bismarck erkannte als einer der ersten die Macht der Presse und der Medien und bediente sich ihrer virtuos, weit über seinen Abgang als Reichskanzler hinaus. Noch als Achtzigjähriger war sein Urteil schärfer und manchmal auch moderner als das der meisten Epigonen.

      Ein Sympathiebolzen war Otto von Bismarck trotz allem nicht. Er hatte Fehler und Schwächen wie jeder große Staatsmann, war herrsch- und rachsüchtig und stellte die eigene Person und ihre Interessen über vieles andere. Der Umgang mit dem besiegten Frank reich von 1871 und die Annexion von Elsass-Lothringen waren kapitale Fehler, deren Tragweite Bismarck sich wohl bewusst war, und die er dennoch nicht verhinderte. Dass er sich dabei im Einklang mit König, Militär und breitester Öffentlichkeit befand, ist keine Entschuldigung für einen Staatsmann seines Kalibers.

      Aber immerhin sollte es nach seinem Tod ein halbes Jahrhundert dauern, bis die deutsche Politik einen Gedanken entwickelte, der über Bismarcks Horizont und Konzeptionskraft hinausging. Die europäische Einigung und die dauerhafte Freundschaft mit Frankreich sind die genuin neue Errungenschaft der Bonner Nachkriegsrepublik und ihr größtes Verdienst bis heute. Möglich wurden sie leider erst nach zwei verheerenden Kriegen und Hekatomben von Opfern. Wäre Bismarck damals von sich aus darauf gekommen, die deutsche und europäische Geschichte wäre wohl anders und wahrscheinlich auch glücklicher verlaufen. Aber wir können die Leistungen Otto von Bismarcks und seiner Zeitgenossen nicht beurteilen nach den Maßstäben von heute und nach dem, was wir heute aus leidvoller Erfahrung gelernt haben.

      Wenn wir uns heute erneut mit Bismarck auseinandersetzen, so ist dies nicht nur wichtig für die historische Erkenntnis und unsere eigene geschichtliche Identität, die die gesamte Spanne der letzten 200 Jahre umfasst und umfassen muss. Sie ist auch wichtig und unentbehrlich für die Auseinandersetzung mit den drängenden Fragen der Gegenwart. Wann immer wir meinen, auf festem Grund zu stehen, stehen wir meist auf Bismarcks Schultern, auch wenn sie tief im historischen Treibsand vergraben sind. Seine Wirkmächtigkeit über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg machen die Auseinandersetzung mit Bismarck auch heute noch zu einem lohnenden Unterfangen. Dazu leistet das vorliegende Buch einen wichtigen Beitrag.

      Bismarck vor Augen.

      Einführung

      Tilman Mayer

      Bismarck ist mehr als eine historische Persönlichkeit. Bismarck wirkt über die Zeiten hinweg und hat uns auch im 21. Jahrhundert noch etwas zu sagen. Wir, die wir ungefragt sein Erbe anzutreten haben, wollen ihn sicherlich nicht nur aus seiner Zeit heraus verstehen. Schließlich blicken wir auf Bismarck durch die »Last der Nation«1 hindurch, die das Deutschland des 20. Jahrhunderts in der Form von Katastrophen und Krisen geprägt hat. Unser Blick kann also nicht unbefangen sein.

      Wir wollen es bei der Beschäftigung mit Bismarck keinesfalls beim Nacherzählen der Geschichte belassen. Wir treiben keine Historiografie. Wir wollen vielmehr beim Durchpflügen des historischen Stoffes versuchen, Lerneffekte zu erzielen.2 Deshalb wenden wir uns gegen eine blickverengende, nur zeitbezogene Betrachtung; bekanntlich ist jeder gute Historiker ohnehin nie nur ein bloßer Rezipient dessen, was sich historisch ereignet hat.3

      Wenn es in der Volksrepublik China etwa ein besonderes Interesse an der Entwicklung des zweiten deutschen Reiches gibt, so gilt dieses Interesse einer aufstrebenden europäischen Großmacht,4 deren Schicksal China für sich vermeiden will. Aufsteigende Mächte sind gefährdete Mächte.5 Auch für uns in Deutschland ist es (immer noch) erkenntnisreich und bedeutungsvoll, den politischen Weg Bismarcks nachzuvollziehen, um als geschichtsbewusst denkende Nachfahren den Bogen in eine historische Konstellation zu schlagen. Zwar differiert diese historische Konstellation mit der unsrigen in vielen Punkten, es stellen sich aber politische Grundfragen, die sich über die Zeiten hinweg erhalten haben. Und diese Grundfragen sollte man artikulieren – nebst den Optionen, die sich aus ihnen ergeben.

      Der Herausgeber dieses Bandes über Fürst Bismarck hat auch ein politikwissenschaftliches Interesse. Dabei weiß er sich dem Motto von John R. Seeley von 1896 verbunden: »Political science without history has no root. History without political science bears no fruit.«6 In diesem Sinne geht es in dem vorliegenden Band auch um eine Art Aktualisierung der Betrachtung Bismarcks – anlässlich seines 200. Geburtstages.

      Es ist somit von vornherein klar, dass ein Bismarck-Bashing hier und heute genauso verkehrt wäre wie einer simplen Bismarck-Begeisterung zu frönen. Wo viel Licht ist, ist viel Schatten. Und so lautet die Grundaussage dieses Bandes schlicht und ergreifend, dass uns Bismarck im 21. Jahrhundert noch etwas bedeutet. Es stünde schlimm um das nationale Selbstbewusstsein in Deutschland, wenn man geschichtsvergessen nicht auch Größe in der Politik aushalten könnte. Es ist nicht zu verwegen festzustellen, dass wir also im Schatten Bismarcks leben, einfach deshalb, weil seine überragende Größe in der Geschichte selbst noch die Politik im 21. Jahrhundert überragt. Mit Bismarck wurden beispielhaft Maßstäbe gesetzt, die heute, wo man sich eher im Klein-Klein gefällt, vielleicht schwer auszuhalten sind.

      Es soll hier also nicht um eine Vereinnahmung gehen, einfach deshalb, weil nur eine kritische Perzeption auch eine realistische ist. Der Größe Bismarcks tut es keinen Abbruch, wenn man sein Werk nicht in toto akzeptieren kann. Es ist keinesfalls kleingeistig, wenn man seinem Werk mit kritischer Distanz gegenübersteht. Schärfer formuliert: Es ist geradezu bedauerlich, dass auch diesem großen Mann Vorwürfe zu machen nicht erspart werden kann. Wir haben Bismarck vor Augen – aber in seinem ganzen Widerspruch, in seiner Größe wie in seinen Unzulänglichkeiten.

      An dieser Stelle spätestens meinen angeblich nur zeitbezogen denkende Historiker vielleicht den Vorwurf machen zu müssen, man argumentiere unhistorisch. Denn, so ihre Logik, aus Bismarcks Zeit heraus seien die Dinge eben nicht anders zu machen gewesen beziehungsweise seine Biografie habe keinen anderen Spielraum gelassen. Dieser engstirnige Zirkelschluss – dass man das Handeln der Damaligen auf die damalige Zeit zurückprojiziert – ist steril und führt entsprechend nicht weiter. Im Falle Bismarcks scheint das Bedauern angesichts seiner Größe besonders groß, dass sich verschiedene andere Perspektiven, die man als Sozialdemokrat, Liberaler, Republikaner, Konstitutionalist und sogar als Patriot usw. einnehmen konnte, historisch mit seinem politischem Lebensweg nicht verbinden lassen.

      Nur auf den ersten Blick liegt nun der erwähnte Vorwurf der unmittelbar zeitbezogen argumentierenden Historiker nahe, dass man es als Nachgeborener natürlich besser weiß als die Akteure seinerzeit. Doch mit dieser Auffassung bremst man eine Diskussion über Fehler aus, aus denen eine Nation lernen muss. Nimmt man sich China hier zum Vorbild, dann wird deutlich, was ansteht: aus verschiedenen Entwicklungen der Vergangenheit für die heutige Zeit Lehren zu ziehen – auch wenn die KP Chinas für sich vielleicht andere Lehren zieht als wir das für sinnvoll oder richtig halten.

      Wir sind auch Bismarck verpflichtet, und zwar insofern er derjenige war, der aus der deutschen Geschichte heraus7 erstmals die Gründung eines Nationalstaats möglich machte. Der Name Bismarck ist allein mit diesem Werk für alle Zeiten verbunden, hierin liegt seine Größe, an die man in Friedrichsruh zu Recht erinnert. Die vielen Bismarck-Denkmäler, die sich bis ins 21. Jahrhundert erhalten haben, drücken genau diese große Anerkennung bis heute aus.8 1871 vor Augen nehmen wir seinen Geburtstag zum Anlass, besonders an diese Leistung zu erinnern. Bekanntlich war es Bismarck nicht in die Wiege gelegt, dass er sich als Junker und als Konservativer mit der damals als revolutionär geltenden Nationalbewegung