Название | Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert |
---|---|
Автор произведения | Julia Noah Munier |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170377554 |
»Weil den Verfolgten hierzulande nahezu ein halbes Jahrhundert der Status als NS-Opfer verweigert und abgesprochen wurde – von Staatswegen, durch andere Opferverbände und durch die etablierte akademische Historikerzunft –, wurden sie jahrzehntelang in einen Opferdiskurs eingeschrieben, um ihnen historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«90
Abb. 3: Cover des Sondermagazins Schwulst, 2010. Schwulst e. V.; Weissenburg e. V. 2010.
Auch heute zeigt sich diese für die Schwulenbewegung so wichtige weil identitätsbildende Figur eines »opferzentrierten Erinnerns« z. B. im Blick auf die Publikation des Stuttgarter »Szenemagazins« Schwulst vom April 2010 »Ausgrenzung aus der Volksgemeinschaft – Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit« (Schwulst-Sonderheft), einem Gemeinschaftsprojekt von Schwulst e. V. und Weissenburg e. V. (Abbildung 3).91 Den Betrachter_innen des Magazins wird mit dem Cover insbesondere eine Figurengruppe als Identifikationsangebot zu sehen gegeben: Ein homosexuelles Freundespaar, das sich vor der Silhouette eines städtischen Hintergrundes – der sich bei genauerem Hinsehen als Stilisierung des ehemaligen Gestapo-Gebäudes in Stuttgart entpuppt – eingewickelt in einen Stacheldraht, aneinanderschmiegt. In der Bildmitte bewirbt ein rosa Winkel das Heft und die Ausstellung. Rechts dahinter wird ein lesbisches Paar zu sehen gegeben – vielleicht handelt es sich aber auch um Transvestiten, transgender Personen oder transsexuelle Frauen – deren inniger Tanz vor dem Gestapo-Gebäude durch den über das Gesäß verlaufenden Stacheldraht seltsam erotisiert erscheint. Im Feld der Visualisierung homosexueller NS-Opfer werden klassische Topoi wie der rosa Winkel und der Stacheldraht – Tobias Ebbrecht (2011) bezeichnet diese als Superzeichen92 – mit neuen Opfer-Figuren kombiniert zu einer Melange aus »Kitsch und Tod« (Saul Friedländer), aus Opferidentifizierung, -erotisierung und Erinnerungskitsch. Letzteren analysierte die Germanistin und Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger. Vom Kitsch der Erinnerung schreibt sie:
»Erinnerung ist keine gemütliche, badewasserlaue Annehmlichkeit, sondern ist eigentlich immer ein Graus, eine Zumutung und eine einzige Kränkung der Eigenständigkeit. Und zwar deshalb, weil wir ja keine Kontrolle über das, was schon passiert ist, haben, weder als Einzelne noch als Mitglieder einer Gruppe. […] Darum haben wir die Nostalgie erfunden, d. h. den Kitsch der Erinnerung, die Verklärung, mit der wir so gern Blut, Schweiß und Kotze der wirklichen Gedächtnisprodukte verpacken.«93
Jureit und Schneider zeigen in Bezug auf den bundesrepublikanischen Kontext, dass die »Figur des gefühlten Opfers« sich für das deutsche Gedenken an die NS-Verbrechen als strukturbildend erweist. Der »[…] Wunsch der Identifizierung mit den Opfern scheint mittlerweile zur erinnerungspolitischen Norm geworden zu sein.«94 Ein solches gerade auch von der zweiten Generation, den Nachgeborenen der Täterinnen und Täter gewähltes Gedenken verstellt den Blick auf »[…] die komplexen Geschehnisse und wirft die Frage auf, was eigentlich von wem und vor allem wie erinnert wird und was wir möglicherweise gleichzeitig auch vergessen.«95 Eine opferidentifizierte Erinnerungskultur, die über den Identifizierungswunsch die Täter und ihre Taten, die Akteurinnen und Akteure der Verfolgungsinstitutionen anonymisiert und pauschal verurteilt, hat ein starkes Verleugnungspotential; eine verklärende, verkitschte Erinnerungskultur ebenso. Diesem gilt es eine wissenschaftliche Bearbeitung der Thematik entgegenzuhalten, die es vermag, diese mühsam gewonnenen Selbstverständlichkeiten und Zugehörigkeitskonstrukte zumindest teilweise zu irritieren.
Eine »opferzentrierte Erinnerungskultur« und eine Einschreibung in einen Opferdiskurs von Seiten der Forscher_innen bedürfen künftig »[…] einer perspektivischen Ergänzung und Neuausrichtung, um den individuellen Handlungsräumen der Verfolgten mehr Aufmerksamkeit und Beachtung zukommen zu lassen sowie die Formen der Solidarität und Unterstützung, gemeinschaftliche Netzwerke und Freundeskreise, Formen des Widerstands und der Selbstbehauptung der Verfolgten zu erkunden und sichtbar zu machen.«96
In einer praxistheoretischen Perspektive auf Lebenswelten, die ihren Blick auf historische Akteure und ihre Praktiken richtet, kann eine von Pretzel problematisierte klassische Opferperspektive umgangen werden. In dieser Perspektive erscheinen die verfolgten homosexuellen Männer »[…] weniger als amorphe Opfergruppe in den Händen von Verfolgern […]«, sondern sie werden als handlungsfähige Subjekte wahrnehmbar. So kann ihren Möglichkeiten von Selbstbehauptung und Eigensinn unter den Verfolgungsumständen bis hin zum Widerstand – dazu zähle ich auch die Emigration – wissenschaftlich nachgespürt werden.97 Der Publikation des Schwulst-Sonderheftes ist zugutezuhalten, dass sich der Tanz der verschiedenen Figuren vor dem Stuttgarter-Gestapo-Gebäude auch in diesem Sinne verstehen ließe.
»Die Wahrnehmung der Verfolgten als Akteure eröffnet neue Forschungsperspektiven auf die Verfolgten und ihre Lebenswirklichkeiten, ihre Fähigkeiten, z. B. in bedrohlichen Situationen Handlungsstrategien zu entwickeln, um der Repression, Bedrohung und Verfolgung aus dem Weg zu gehen bzw. ihnen zu trotzen.«98
Andreas Pretzel betont in seiner Publikation »Verfolgung und Selbstbehauptung – homosexuelle Männer während der Zeit des Nationalsozialismus« (2014), dass es in künftigen Forschungen gilt, »[…] die herkömmlichen Blickwinkel auf Verfolgung, Denunziation und Fremdbestimmung zu erweitern und auf bislang unbeleuchtete Aspekte auszudehnen.«99 In diesem Sinne stehen die verfolgten homosexuellen Männer in dieser Forschung nicht mehr als bloße Opfer im Fokus der Forschung, sondern als Akteure.100 In der Methode historischer Praxeologie ist diese Perspektive gewissermaßen intrinsisch enthalten.
Mit dieser eröffnen sich Fragestellungen nach Handlungsmöglichkeiten der historischen Akteure, die auf das engste mit denen der Lebenswelten verschränkt sind. Es stellen sich Fragen nach Selbstschutz- und Reaktionsmustern in heiklen Situationen, etwa um den Verfolgern zu entkommen oder drohende Sanktionen zu mildern. Weiter wäre zu fragen nach der möglichen Entwicklung von Strategien zur Selbstverteidigung strafbedrohter Männer. Aber auch Fragen nach ihrem Umfeld rücken in den Fokus, etwa die Frage danach, wo, wie und bei wem die Männer Hilfe, Rückhalt oder Unterstützung fanden und wem sie vertrauten. Zugleich rücken Fragen nach den Auswirkungen der spezifischen Verfolgungserfahrung auf das eigene Selbst und das gemeinsame Miteinander in den Blick der Forschung:101
»Wie haben das Wissen um die Bedrohung und die Verfolgungserfahrungen das eigene Selbst und das Miteinander geprägt und verändert? Wie haben die Männer ihre Lebensentwürfe, ihre Freundschaftsnetzwerke und Liebschaften behaupten können? Wie haben sie ihr Verhalten den sich verändernden Verfolgungssituationen im Verlauf der Radikalisierung angepasst? Wer stand ihnen noch zur Seite und bemühte sich um Hilfe und Beistand, wenn sie in Haft kamen? Wer kümmerte sich währenddessen um die Wohnung, das Vermögen oder die Habseligkeiten und wer um den Nachlass?«102
1.3 Politisch-geografischer Kontext und Aufbau der Studie
Diese Studie untersucht Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer auf dem Gebiet des heutigen Baden-Württemberg.