Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert. Julia Noah Munier

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zwischen »Täter« und »Opfer« entgegen, die einen differenzierten Zugang zur Forschung oft verstellen. Mit einer Nichtbearbeitung dieses Feldes tradiert sich ein gesellschaftliches Tabu des Sprechens über sexualisierte Gewalt auch in der Geschichtswissenschaft.

      Strafprozess-, Strafvollzugs- und Polizeiakten, die homosexuelle Männer betreffen, können trotz der geschilderten scheinbar einseitigen Auskunftsfähigkeit zu Verfolgungsschicksalen auch die Erforschung von Lebenswelten ermöglichen und zwar sowohl im Kontext staatlicher Repression wie beispielsweise des »Strafvollzugs«, aber teilweise auch von Lebenswelten jenseits des Strafvollzugs.

      Um die unterschiedlichen Lebenswelten jedoch nicht zu reduzieren auf die Repressions- und Verfolgungsrealitäten und Lebenswelten facettiert zu dokumentieren, scheint es sinnvoll, den Quellenkorpus um weitere Quellen zu ergänzen. Hierzu gehören weitere private Dokumente, Publikationen der homosexuellen Emanzipationsbewegung, zeitgenössischer Film, Literatur, künstlerische Repräsentationen oder sexualpolitische Diskurse der jeweiligen Untersuchungszeit.

      Vor dem Hintergrund der möglicherweise nur reduziert Auskunft über die Lebenswelten gebenden Quellen und der Ergänzung dieser durch weitere Quellenbestände scheint eine Erforschung von Lebenswelten durch die Perspektivierung einer kulturwissenschaftlich informierten Geschichtswissenschaft gewinnbringend zu sein. In dieser kann der Quellenvielfalt, die zur Untersuchung der Lebenswelten homosexueller Männer unabdingbar ist, aus einer praxeologischen Forschungsperspektive begegnet werden.

      1.2 Die Analyse von Lebenswelten und Verfolgungsschicksalen in der Perspektive einer historisch-praxeologischen Forschung

      Wodurch zeichnet sich dieser Ansatz aus und worin liegt sein Vorzug? Der praxeologische Ansatz geht davon aus, dass gemeinsame Praktiken es sind, die einzelne Akteure zu Gemeinschaften verbinden. Wenn man mithin das lebensweltliche Profil einer spezifischen Gruppe verstehen möchte, bietet sich der Zugang über deren gemeinschaftsstiftenden Praktiken vor allem dann an, wenn es an Ego-Dokumenten mangelt, in denen sich die Akteure reflexiv über ihr eigenes Tun auslassen.

      Dies bedeutet, dass der Ansatz, der die handelnden Subjekte, die historischen Akteur_innen und ihre Praktiken, ins Zentrum der Untersuchung rückt, stets die Brücke zu den sozialen und politischen Konfigurationen schlägt, in denen sich Subjekte praxeologisch entfalten und eine intersubjektive Akteursidentität konstituieren. Nimmt man mithin aus dieser Perspektive die lebensweltliche Formierung und Selbstformung homosexueller Akteure in den Blick, dann müssen zugleich die soziopolitischen Kontexte einbezogen werden, innerhalb derer sich solche Praxen entwickeln.

      In einer praxeologischen Perspektive gilt es den Blick zu richten auf Lebenswelten, die im Sinne eines doing culture in und durch performative Praktiken hervorgebracht werden. Lebenswelten sind dabei nicht als sozio-kultureller »Hintergrund« von sich vor diesem »Hintergrund« ereignenden sozialen Praktiken zu begreifen, sondern (historische) Lebenswelten werden in einer praxeologischen Perspektive begriffen als in und durch (historische) soziale Praktiken hervorgebracht.