Название | Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert |
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Автор произведения | Julia Noah Munier |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170377554 |
Hinsichtlich der Quellenlage ist zu konstatieren, dass Zeitzeugen nicht mehr zur Verfügung stehen, welche die Zeit des nationalsozialistischen Terrors er- bzw. überlebt haben und die insbesondere von der NS-Verfolgung, ihren Verfolgungsschicksalen und Lebenswelten im deutschen Südwesten zwischen 1933 und 1945 berichten könnten. Die wenigen Zeitzeugen, die von der Verfolgung im bundesrepublikanischen Baden-Württemberg berichten können, sind heute meist hochbetagt. Sollten sie im Laufe ihres Lebens aufgrund des § 175 StGB verurteilt worden sein, so wurden diese Strafen bis in das Jahr 2017 nicht aufgehoben. Als Opfer der bundesrepublikanischen Justiz wurden sie über Jahrzehnte nicht rehabilitiert und galten bis dahin als vorbestraft. Daher ist das Zeitzeug_innen-Interview-Projekt der Bundestiftung Magnus Hirschfeld »Archiv der Anderen Erinnerungen« von besonderem Wert, das in den letzten Jahren ein Video-Archiv mit Zeitzeug_innen-Interviews sowie mit individuellen Erfahrungen und Erinnerungen zu LSBTI*-Lebensgeschichten seit den 1950er und 1960er Jahren angelegt hat und auf das für diese Studie zurückgegriffen werden konnte.35 Die außerordentlich gewinnbringende Kooperation des Forschungsprojektes mit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld sei an dieser Stelle herausgestellt. Dr. Daniel Baranowski und Jörg Litwinschuh-Barthel gebührt diesbezüglich herzlicher Dank. Auch die Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte in Gestalt von Prof. Michael Schwartz hat die vorliegende Studie maßgeblich befördert, wofür auch ihm ausdrücklich gedankt sei. Besonders hervorzuheben sind zudem die an diesem Projekt beteiligten Zeitzeugen Alfred, Helmut Kress, Richard Moosdorf und Heinz Schmitz.36
Es liegt auf der Hand, dass die Erinnerungen von Zeitzeugen nur vor dem Hintergrund der methodischen Reflexion über den Quellenwert von »oral history« herangezogen werden können. Es ist in Rechnung zu stellen, dass Erinnerungen an Begebenheiten, die Jahrzehnte zurückliegen, konstitutiv der Verformung nicht zuletzt durch im individuellen Gedächtnis abgespeicherte mediale Repräsentationen unterliegen.37 Doch steht außer Frage, dass vermittels dieser Zeitzeug_innen-Interviews historische Quellen generiert werden, die es überhaupt erst ermöglichen, einen Einblick in die kriminalisierten und damit auch marginalisierten Lebenswelten homosexueller Männer des bundesrepublikanischen Südwestens zu erhalten, über die es kaum schriftliche Zeugnisse gibt. Über homosexuellen Männern schwebte bis 1969 das Damoklesschwert desjenigen Strafrechtsparagraphen, der vermutlich der bekannteste überhaupt war: Was ein »§ 175er« war, war allgemein bekannt und diente auch der semantischen Umschreibung dessen, was als Vergehen nach § 175 (R)StGB mit der historischen, heute nicht mehr gebräuchlichen Deliktbezeichnung »widernatürliche Unzucht« bzw. »Unzucht« bezeichnet wurde.38 Mit der Deliktbezeichnung der »Unzucht«, die seit der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935 und ihrem Inkrafttreten am 1. September 1935 geläufig war, wurden sowohl Vergehen und Verbrechen gegen den § 175 RStGB gefasst, als auch gegen den § 175 a RStGB, Abs. 1–4 (»Schwere Unzucht«). Der § 175 RStGB bezog sich auf einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern, sogenannte einfache Homosexualität, und stellte diese unter Strafe.39 Der § 175 a RStGB bezog sich auf die sogenannten qualifizierten Fälle:
»Als sog. qualifizierte Fälle der Homosexualität galten homosexuelle Handlungen, die unter Anwendung von Gewalt (§ 175a Nr. 1 RStGB), bei Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses (§ 175a Nr. 2 bzw. § 175 in Tateinheit mit § 174 RStGB), an Minderjährigen unter 21 Jahren (§ 175a Nr. 3 bzw. § 175 in Tateinheit mit § 176 RStGB) oder ›gewerbsmäßig‹ (§ 175a Nr. 4 RStGB) vorgenommen wurden.«40
In dieser NS-Fassung blieben die §§ 175, 175 a StGB bis 1969 in Kraft.
In den zentralen Staats- und Landesarchiven Baden-Württembergs konnten zahlreiche Aktenbestände ausgemacht werden, die Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer analysierbar machen. Hierzu gehören: Das Staatsarchiv Ludwigsburg, das Staatsarchiv Sigmaringen, das Hauptstaatsarchiv Stuttgart, das Generallandesarchiv Karlsruhe sowie das Staatsarchiv Freiburg. Die systematische Auswertung dieser Dokumente ermöglicht einen Einblick in unterschiedliche Lebenswelten homosexueller Männer und deren Verfolgungsschicksale.
Viele für dieses Projekt wesentliche Quellen sind heute nicht mehr überliefert. Zahlreiche Gestapo- und Polizeiakten wurden durch gezielte Verbrennungsaktionen und Bombeneinschläge zerstört.41 Durch geplante, willkürliche Zerstörung und archivalische Kassierungen von für diese Forschung aufschlussreichen Aktenbeständen ist von einer entsprechenden Dunkelziffer von nicht gesichteten Fällen auszugehen. Weitere Aktenbestände sind nicht in dem Maße erschlossen, um mit ihnen gewinnbringend arbeiten zu können.
Der Fokus dieser Forschung richtet sich nach den überlieferten Quellen, ohne die überlieferungsbedingten Lehrstellen aus dem Blick zu verlieren.42
»Das Wunschdenken, alle Quellen zu einem historischen Akteur [bzw. einer Akteur_in, Anmerk. d. Verf.] oder gar sozialen Prozess zusammentragen zu können, entspringt einem bürgerlichen Verständnis von Historiografie, das Vergangene möglichst vollständig rekonstruieren zu wollen. Heute ist die ›Vollständigkeit der Quellen‹ für die meisten Historiker [und Historiker_innen, Anmerk. d. Verf.] eine absurde Vorstellung. Nichtsdestotrotz ist diese Wunschvorstellung immer wieder ein nicht zu unterschätzender Antrieb […].«43
Tausende überlieferte Dokumente der staatlichen Verfolgungsinstitutionen, die heute in den bundesrepublikanischen Staats- und Landesarchiven archiviert sind, vermögen es, über das Verfolgungsschicksal homosexueller Männer Auskunft zu geben. Doch lassen sich anhand dieser Dokumente der Verfolgungsinstiutionen auch Lebenswelten homosexueller Männer analysieren?
1.1 Zur Analyse von Lebenswelten homosexueller Männer anhand von Dokumenten der Verfolgungsorgane44
Im Zuge der Erforschung und Dokumentation der »Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg« wurden zahlreiche Strafprozess-, Strafvollzugs- oder Polizeiakten aufgespürt, gesichtet und analysiert.45
Es erscheint befremdlich, durchaus problematisch und möglicherweise auch wenig ergiebig, das Konzept der Lebenswelten verwenden zu wollen, wenn Lebenswelten vorwiegend auf der Grundlage von archivalischen Nachlässen der Verfolgungsbehörden und -institutionen dokumentiert und rekonstruiert werden. Der augenscheinliche Einwand, dass diese Quellen weniger Lebenswelten als Verfolgungsschicksale dokumentieren, scheint zunächst berechtigt.46
Doch worüber genau geben diese Quellen Auskunft, und können sie zur Erforschung von Lebenswelten homosexueller Männer fruchtbar gemacht werden? Wie vermögen es diese Quellen Einblicke in Lebenswelten zu geben? Und wie muss eine historiografische Forschung konzeptualisiert sein, die es vermag vermittels dieser archivalischen Nachlässe der Verfolgungsorgane Lebenswelten homosexueller Männer zu erforschen und zu dokumentieren?
In seinen Überlegungen zu dem Forschungsprojekt »Lebenssituation, polizeiliche Repression und justizielle Verfolgung von Homosexuellen in Mecklenburg 1932 bis 1945« (2014) beschreibt der Historiker Michael Buddrus den möglichen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisgewinn durch Häftlingsakten.