Название | Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert |
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Автор произведения | Julia Noah Munier |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170377554 |
Diese zeitliche Fokussierung der Studie birgt eine weitere Problematik. Sie könnte den Eindruck erwecken, die Geschichte der Emanzipation homosexueller Männer sei eine fortwährende, linear sich entwickelnde Erfolgsgeschichte. Gerade aktuelle Zahlen zu Hassverbrechen auch in Baden-Württemberg zeigen, dass homosexuelle Männer wieder zunehmender gesellschaftlicher Repression ausgesetzt sind.121
Anregen möchte diese Studie zu einer weiteren Erforschung der Geschichte homosexueller Lebenswelten und Verfolgungsschicksale im deutschen Südwesten auch nach der Strafrechtsreform vom 1. September 1969 bis zur endgültigen Streichung des so genannten Homosexuellenparagrafen im Jahr 1994.122
1 Friedrich Enchelmayer (1908–1940, KZ Neuengamme) StAL E 356 d V Bü 1890. Brief aus dem Zuchthaus Ludwigsburg v. 26.06.1938 an seine Mutter Marie Enchelmayer.
2 Fritz Bauer in: Bauer, Fritz (1967): »Sexualtabus und Sexualethik im Spiegel des Strafgesetzes«. In: Bauer, Fritz; Nass, Gustav: Humanistische Union, Bd. 16. Schuld und Sühne in der Bundesrepublik. München 1967, S. 19.
3 Otto Hug in »Deutsche Kameraden antworten …« In: Der Kreis. Eine Monatsschrift. Le Cercle. Revue Mensuelle. 17. Jg., H. 3, 1949, S. 6–7, 23, hier S. 23.
4 Otto R. Brief an den Medizinalrat Dr. Overhamm. Offenburg, 13.02.1938, S. 1 (Abschrift). StAF A 43/1 Nr. 872, Bl. 246.
5 Paul Honold, zit. n. Med. Gutachten des Gesundheitsamtes Konstanz, 08.01.1938, S. 20. StAF D 81/1 Nr. 534, Nr. 4.
6 Richard Moosdorf (0029/BMH/0029). Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, 19. September 2016 (Stuttgart). Durchführung: Karl-Heinz Steinle, Andreas Pretzel und Benjamin Bayer.
7 Die Gedenkkarte des Projektes »Der Liebe wegen« zeichnet viele Schicksalswege Betroffener nach und dokumentiert ihre Verfolgung. Auf diese sei hier ausdrücklich verweisen: www.der-liebe-wegen.org.
8 Vgl. zu dieser Einschätzung Bogen 2013, S. 317.
9 Vgl. Pretzel 2014. Lebenswelten homosexueller Männer waren vielfach durchdrungen von und verwoben mit denen lesbischer Frauen, sowie mit denen transsexueller, transgender und anderer queerer Personen. Siehe zur Analyse von »homosexuellen Lebenswelten« sowie der Skizzierung von Schnittmengen zwischen den Lebenswelten homosexueller Männer und Frauen auch die Publikation von Herzer 2014. Zum Begriff Queer vgl. Jagose 2001 (1996). Die Verwendung dieser zeitgenössischen Begriffe und Zuschreibungen in Bezug auf historische Subjekte ist nicht unproblematisch. Siehe zur Verwendung des Begriffs »queer« im historischen Kontext auch Munier, Julia Noah (2016): »Schräg sein, seltsam und verqueren – Queer und Queering«. URL: http://www.lsbttiq-bw.de/2017/02/09/schraeg-sein-seltsam-und-verqueren-queer-und-queering/, 17.07. 2017.
10 Vgl. Foucault 1983 (1976), S. 47. Homosexualität ist nach Foucault ein spezifisch modernes Phänomen. Im Kontext medizinischer, sexologischer Forschungen wird »Der Homosexuelle« um 1870 als ein spezifischer Personentypus begriffen. Davor bestand die Identitätskategorie des Homosexuellen nicht, wenngleich gab es gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen in der so genannten okzidentalen Kultur auch vor dem Beginn der Moderne. Obwohl der Begriff des Schwulen auch in Württemberg bereits in den 1920er Jahren als Selbstbezeichnung verwendet wurde (Vgl. StA Ludwigsburg F 302 I Bü 794, Auftragserledigung des Württ. Landjägerkorps, v. 06.04.1925 an das Amtsgericht Leonberg, S. 5. Hier spricht der damals noch nicht so genannte Sexarbeiter Wilhelm S. davon mit Männern »Schwule verkehrt« [sic!]« zu haben), ist der Begriff des Schwulen auch als Aneignung eines negativ konnotierten Schimpfwortes tendenziell als eine Identitätsbezeichnung zu verstehen, die im Kontext der bundesdeutschen Schwulen und Schwul-Lesbischen Emanzipationsbewegung in den 1970er und 1980er Jahren Bedeutung erlangte. Dabei zielte das Selbstkonzept des Schwulen historisch nicht nur auf juristische Anerkennung, sondern verschränkte sich im Rahmen neuer sozialer Bewegungen immer wieder auch mit radikaler Gesellschaftskritik. Nicht zuletzt wenden sich schwule Männer seit den 1970er Jahren damit auch gegen das im Kontext pathologisierender medizinisch-sexologischer Schriften virulent gewordene Konzept der Homosexualität und dessen Konnotationen. Zur Verwendung des Begriffs bereits in den 1920er Jahren in Württemberg vgl. auch StAL F 302 II Bü 207: »Er tritt mit einer gewissen Selbstgefälligkeit in der Rolle des homosexuell veranlagten jungen Mannes auf, benützt die in diesen Kreisen üblichen Fachausdrücke: ›Strichjunge‹, ›Schwule‹, ›Typ‹ usw. […].« Gutachten des Amtsarztes beim Polizeipräsidium Stuttgart v. 18.05.1925 betreffend Theodor F., S. 3.
11 Mit Fritz Bauer ließe sich konstatierten, dass »[a]lle Formen der Homosexualität […] Ausdrucksweise[n] der hohen Variabilität sexuellen Verhaltens [sind]. Homosexualität und Heterosexualität sind kein Entweder-Oder. Die Welt läßt sich, um mit dem Kinsey-Report zu sprechen, nicht in schwarze und weiße Schafe aufteilen. Die lebende Welt ist in allen Teilen ein Kontinuum.« Bauer 1967, S. 9. Karl Jaspers räumte sogar die Unmöglichkeit einer Definition der Homosexuellen ein, als er in seiner Allgemeinen Psychopathologie, die erstmals 1913 erschien, schrieb: »Die Homosexuellen sind offenbar gar nicht auf einen Nenner zu bringen.« Jaspers 1946, S. 529. Lebenswelten homosexueller Männer sind zumindest in den städtischen Zentren Badens und Württembergs bzw. des späteren Baden-Württembergs oft nicht zu trennen von denen lesbischer Frauen und den damals noch nicht so genannten Queers, Transsexuellen, Transgendern u. a. Es steht zu vermuten, dass auch lesbische Frauen immer wieder im Kontext von, von homosexuellen Männern frequentierten Treffpunkten Orte fanden, an denen sie selbstbestimmt ihr Begehren und ihre Sexualität leben konnten und vielleicht diese Orte gerade selbst auch schufen und aufrechterhielten. Weiter ist die These aufzustellen, dass Tanz- und Bühnenshows, in denen traditionell auch Cross-Dressing-Auftritte ihren Platz hatten, zu den Höhepunkten kultureller Festivitäten gehörten und sie damit untrennbarer Teil der Lebenswelten homosexueller Männer waren. Zum Begriff der »Tante«, wie sich Male-to-female-cross-dresser, Dragqueens oder Transvestiten, aber auch effeminierte homosexuelle Männer in den 1920er Jahren zu nennen pflegten, vgl. Keilson-Lauritz 2005. Dennoch gab es Orte und Treffpunkte, an denen vornehmlich bis ausschließlich homosexuelle Männer zusammenkamen, man denke an die trotz Strafandrohung und -verfolgung gewissermaßen zu »sexuellen Freiräumen« umfunktionalisierten öffentlichen Bedürfnisanstalten.
12 Pretzel 2014, S. 53.
13 In der Perspektive einer praxeologischen Geschichtswissenschaft gilt es »körperlich tätige Akteure in dem Vollzug ihrer Handlungen zu untersuchen.« Reichardt 2007, S. 44. Im Unterschied zu strukturalistischen kulturtheoretischen Ansätzen »wird das Subjekt nicht nur als Exekutor kultureller Strukturen, sondern auch als deren Schöpfer verstanden.« Reichardt 2007, S. 50. Zur praxeologischen Perspektive in der Geschichtswissenschaft siehe den wegweisenden Artikel von Reichardt, Sven (2007): »Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung«. In: Sozial. Geschichte 22, S. 43–65. Siehe zur Erforschung von Lebenswelten