Название | Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert |
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Автор произведения | Julia Noah Munier |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170377554 |
Die vorliegende Untersuchung kann aufbauen auf einer Reihe Lokal- und Regionalstudien speziell zur Verfolgung homosexueller Männer im NS-Staat.20 Per Saldo kommen solche Studien zu dem Ergebnis, dass die Verfolgung regional höchst unterschiedlich verlief und dass lokale Strukturen offenbar erheblichen Einfluss auf das Ausmaß und die Intensität der Verfolgung hatten.21 Für ein größeres Flächenland besteht hingegen auch in dieser Hinsicht noch erheblicher Forschungsbedarf:
»Ungeachtet zahlreicher Studien sind die privaten Lebenssituationen und die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Homosexuellen in der Zeit des Dritten Reiches bislang für keine größere politisch-administrative Einheit – etwa für ein ganzes Land – flächendeckend, hinreichend oder gar umfassend erforscht […].«22
Die vorliegende Untersuchung profitiert erheblich davon, dass zivilgesellschaftliche Akteure in Baden-Württemberg seit den 1980er Jahren in Eigeninitiative Material zusammentrugen und für die Verfolgung Homosexueller im NS-Regime gesellschaftlich sensibilisierten. Beispielhaft seien an dieser Stelle herausgegriffen Veranstaltungen der Initiativgruppe Homosexualität Tübingen (IHT), die im Rahmen der »Gesundheitswoche Tübingen« (08.–17.10.1982) zu einer Veranstaltung mit dem Titel »Mediziner und Schwule während der NS-Zeit« einlud.23 Erinnert sei auch an eine Ausstellung mit dem Titel »Homosexualität im Nationalsozialismus«, die im Theaterfoyer des Ulmer Stadttheaters in der Spielzeit 1984/1985 gezeigt wurde und die zusammen mit dem von Dietrich Hilsdorf am Ulmer Stadttheater inszenierten Stück »Rosa-Winkel« bzw. »Bent« von Martin Sherman einen größeren Aufmerksamkeitsraum für das Thema schuf. Kuratiert wurde diese Ausstellung durch den Medizinhistoriker Walter Wuttke, der sie mit der Unterstützung zahlreicher Schwulengruppen und Bildungsvereine zusammengestellt hatte. Die Ausstellung wurde als weiterentwickelte Wanderausstellung bis Ende der 1980er Jahre in vielen Städten der Bundesrepublik präsentiert (Abbildung 1 u. 2).24
Abb. 1: Cover des Ausstellungsmagazins »Homosexuelle im Nationalsozialismus«. Ausstellung im Haspelturm Tübingen 1987.
Abb. 2: »Bent« von Martin Sherman am Nationaltheater Mannheim 1980. Deutsche Erstaufführung unter der Regie von Jürgen Bosse. Im Bild die Schauspieler Peter Rühring (rechts) und Heinz Schubert (links).
Solche außerakademischen Initiativen strahlten in Einzelfällen auch auf die Universitäten aus, an denen sich nicht zuletzt die Betreuenden von Qualifikationsarbeiten überaus schwer damit taten, Dissertationen zu diesem Themenkomplex zu vergeben. Insofern stellt die Dissertation von Burkhard Jellonnek, die 1990 unter dem Titel »Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich« publiziert wurde, eine beeindruckende Pionierleistung dar, weil sie das Forschungsfeld erstmals umfassend abdeckte. Wenig später erschien eine grundlegende Dokumentensammlung von Günter Grau »Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung« (1993). Zu erwähnen ist auch die von Bernd-Ulrich Hergemöller herausgegebene Bibliographie »Einführung in die Historiographie der Homosexualitäten« (1999).
Insgesamt nahm die historische Forschung auf diese Weise allmählich Fahrt auf. Einen Meilenstein der Forschung stellte der 2014 erschienene Sammelband des Historikers Michael Schwartz »Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neue Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Menschen 1933 bis 1945« dar. Sein Hauptverdienst ist es, methodisch neue Wege gewiesen und den Fokus der Untersuchung auf die Diversifizierung von sexuellen Identitäten (sexual identities) als auch von geschlechtlichen Identitäten (gendered identities) ausgeweitet zu haben. Insbesondere der in dem Sammelband von Schwartz erschienene Aufsatz von Michael Buddrus zu den Verfolgungsschicksalen homosexueller Männer in Mecklenburg war im Hinblick auf die Entwicklung des methodischen Vorgehens und die Konzeptualisierung des Forschungsdesigns dieser Studie hilfreich.25 Michael Schwartz hat im Jahre 2019 seine Forschungen in Gestalt einer Monographie synthetisiert, die schon jetzt den Charakter eines Standardwerks beanspruchen kann.26
Gewinnbringend für den auf die bundesrepublikanische Geschichte abzielenden Teil dieser Studie erwies sich überdies die im Rahmen des Forschungsprojektes über strafrechtliche Verfolgung und Diskriminierung von Homosexualität im Lande Rheinland-Pfalz zwischen 1946 und 1973 (Institut für Zeitgeschichte/ Bundesstiftung Magnus Hirschfeld) entstandene Studie von Günter Grau und Kirsten Plötz »Verfolgung und Diskriminierung der Homosexualität in Rheinland-Pfalz« (2017). Als erste wissenschaftliche Studie, die sich mit der bundesrepublikanischen Verfolgungsgeschichte in einem Flächenbundesland befasst, setzte sie neue Maßstäbe.27
Zugleich knüpft diese Studie an wichtige regionale und lokale außerinstitutionelle Arbeiten zur Verfolgung homosexueller Männer nach § 175 (R)StGB in Baden und Württemberg an,28 die in den letzten Jahren im Kontext von lokalen Initiativen und Vereinen wie der »Themengruppe Geschichte und Erinnerung« des Netzwerks LSBTTIQ Baden-Württemberg entstanden.29 Ausdrücklich hingewiesen sei auf die Forschungen von Ralf Bogen und William Schaefer.30 Besonders hervorzuheben in diesem Zusammenhang ist das von dem Geschichtsforscher Ralf Bogen geleitete Bildungs- und Aufklärungsprojekt »Der Liebe wegen« (www.der-liebe-wegen.org). Die Webseite berichtet eigenen Angaben zufolge von »Menschen im deutschen Südwesten«, »die wegen ihrer Liebe und Sexualität ausgegrenzt und verfolgt wurden«.31 Sie dokumentiert in umfangreicher Kleinstarbeit zahlreiche Biografien homosexueller Männer aus dem deutschen Südwesten.
Ausdrücklich bedarf der Erwähnung die avantgardistische Vorarbeit des Historikers Karl-Heinz Steinle, der für die Schriftenreihe »Hefte des Schwulen Museums« wertvolles Quellenmaterial auch und gerade zu südwestdeutschen homosexuellen Lebenswelten gesammelt hat. Ihm gebührt das Verdienst, die Geschichte eines in Reutlingen beheimateten Zirkels der »Kameradschaft die runde«, als erster wissenschaftlich untersucht zu haben.32 Last but not least lebt diese Studie von den zahlreichen kleineren Beiträgen und Anregungen aus der sogenannten Community und der interessierten Öffentlichkeit selbst, die im Kontext des begleitenden Public-History Projektes (www.lsbttiq-bw.de),33 im Kontext von Tagungen, Diskussionsveranstaltungen oder Vorträgen an das Projekt und die Autor_in herangetragen wurden.34 Es sei hervorgehoben, dass der vorliegenden Studie ein Privileg zuteil wurde. Sie entstand im Rahmen des, durch