Название | Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert |
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Автор произведения | Julia Noah Munier |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170377554 |
»Wir erfahren, wie das Delikt den Polizei- oder Justizbehörden bekannt geworden ist, wer angezeigt und denunziert hat, aber auch, welche Dienststellen (zumeist Kripo und Gestapo) und welche Beamten die Ermittlungen geleitet haben. Deutlich wird weiterhin, welches Gericht sich mit der Verfolgung des Straftatkomplexes § 175 RStGB befasst hat.«49
So lässt die Auswertung dieser Quellen Rückschlüsse über die Organe und Akteure der Verfolgung zu. Beispielsweise lässt sich erfahren, ob es sich um Amts- bzw. Landes- oder Oberlandesgerichte handelte, oder, in der NS-Zeit, um Kriegsgerichte, um das Reichsgericht sowie Sondergerichte, die an der Verurteilung homosexueller Männer beteiligt waren. Zugleich lässt sich in Erfahrung bringen, ob Gefängnisaufenthalte lediglich durch Oberstaatsanwaltschaften oder die Gestapo veranlasst wurden, also nicht auf einem Urteilsspruch beruhten.50
Auch ist zu ersehen, welche Richter die Angeklagten verurteilt haben, welche Staatsanwälte die Anklage verfasst haben und wer die Angeklagten vor Gericht vertreten hat.51 Zudem, und dies betont Buddrus für den Kontext Mecklenburg, zeichnet sich auf dieser Grundlage ab, und einiges deutet darauf hin, dass dies auch im deutschen Südwesten so war,52 dass sich eine bei Staatsanwaltschaften und Gerichten »[…] deliktbezogen herausbildende Spezialzuständigkeit entwickelte«.53
»Aus den Häftlingsakten werden […] Einzelheiten und Spezifika des Strafvollzugs an Homosexuellen erkennbar, so über das Einlieferungsprozedere, den Gesundheitszustand und die Haftbedingungen, über mögliche Delikte während der Haft und darauf folgende Hausstrafen sowie über die kriminalpsychologische Beurteilung durch Strafanstaltsbeamte.«54
Außerdem – und hier klingt zumindest an, wie diese Quellen möglicherweise nicht nur über die Verfolgungsschicksale Auskunft geben können, sondern weitere Einsichten in Lebenswelten ermöglichen – liegen in nicht wenigen Fällen auch die von der »[…] Anstaltszensur zurückgehaltenen und in der Gefangenenakte überlieferten Briefe eines Häftlings und seiner Angehörigen Zeugnis ab vom persönlichen Befinden des Verurteilten, dem Verhalten seiner Familie und dem Alltag innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern.«55
Es ist also zu konstatieren, dass wir vermittels dieser Quellen – »[…] durch den spezifischen Blick der Verfolgungsinstanzen gefilterte – Einblicke […]« in die Lebenswelten homosexueller Männer erhalten.56
Auch in der Quellengruppe der Strafprozessakten sind Rückschlüsse auf die Lebenswelten homosexueller Männer möglich. Sie enthalten ebenfalls Angaben zum Anfangsverdacht, wie z. B. Denunziationsschreiben; darüber hinaus enthalten sie die Aussagen der Beschuldigten und ggf. auch die möglicher Zeugen, Anwaltsschreiben und medizinische Gutachten. Weiter beinhalten sie aus der Perspektive einer historiografischen Forschung als Ego-Dokumente einzustufende »Beweisstücke« wie Tagebücher und Terminkalender, aber auch Zeitschriften, Fotografien, private Korrespondenzen zwischen Freunden, Liebhabern und Partnern sowie Korrespondenzen mit offiziellen Vertretern von Homosexuellenorganisationen u. v. m. Hinzu kommen Anklage und Verteidigungsschriften, der Verlauf der Gerichtsverhandlung, das Strafmaß sowie teilweise auch Angaben über die Strafverbüßung.57
Bezüglich des Auskunftswertes von Polizeiakten konstatiert Jan-Henrik Peters, der die Verfolgung homosexueller Männer auf dem Gebiet des heutigen Mecklenburg-Vorpommerns im »Dritten Reich« untersucht hat, dass diese Quellen Aussagen zu allen Ermittlungsfällen enthalten, auch zu »[…] denjenigen, bei denen es zu keiner Anklageerhebung gekommen war. Außerdem informieren sie über Ansätze und Methoden der Ermittlungsarbeit. Nicht zuletzt dokumentieren die Akten dieser Sicherheits- und Terrororgane die sogenannte ›polizeiliche Vorbeugung‹, d. h. Deportation Schwuler in die Konzentrationslager.«58
Überdies konnten im Kontext der Quellenauswertung wiederholt Dokumente ausgemacht werden, in denen Männer gegen den Paragrafen 175 a, Nr. 1–3 (R)StGB verstießen. Doch wie ist mit diesen Quellen im Kontext einer Studie zu den Lebenswelten und Verfolgungsschicksalen homosexueller Männer zu verfahren? Deutlich wird, dass es sich bei diesen besonders sensiblen Quellen um einen Grenzbereich handelt. Die Gruppe der nach § 175 a (R)StGB verurteilten Männer und ihre deliktbezogenen Handlungen sind in sich stark differenziert. Vor dem Hintergrund eines gegenwärtig veränderten Normbewusstseins erscheint die Einbeziehung von Quellen, die u. a. darüber Auskunft geben, dass erwachsene Männer über 21 Jahren mit Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren einvernehmlich sexuell verkehrten, möglicherweise nachvollziehbar.59
Sind aber beispielsweise Quellen miteinzubeziehen, die u. a. darüber Auskunft geben, dass erwachsene Männer über 21 Jahren sexualisierte Gewalt an männlichen Personen zwischen 14 und 21 Jahren verübten? Sind also beispielsweise Gerichtsurteile nach § 175 a, Nr. 1 (Anwendung von Gewalt) in diese Studie miteinzubeziehen und damit auch die auf diesen Urteilen basierenden Verfolgungsschicksale historischer Personen? Ähnlich brisant erscheint die Einbeziehung von Quellen und damit von Verfolgungsschicksalen, die auf Verurteilungen nach § 175 a, Nr. 2 (Bestehen eines Abhängigkeitsverhältnisses) zurückgehen. Zu bedenken ist allerdings auch, dass derartige Straftatbestände über ihre strafrechtliche Bedeutung hinaus von den historischen Akteuren der Verfolgungsinstitutionen genutzt werden konnten, um gegen politisch missliebige Personen vorzugehen.
Einzuräumen ist, dass die Quellen und Urteile, in denen Personen nach § 175 a, Abs. 1 u. 2 verurteilt wurden, möglicherweise seltener explizit Auskunft über Lebenswelten homosexueller Männer geben. Dennoch sollten sie in Bezug auf die Dokumentation von Verfolgungsschicksalen berücksichtigt werden. Fasst man den Begriff der »homosexuellen Männer« hier sexologisch und nicht explizit identitätspolitisch, dokumentieren diese Quellen ebenso Verfolgungsschicksale homosexueller Männer.
Es ergibt keinen Sinn, vergangene historische Handlungen oder Delikte z. B. auf der Grundlage unseres gegenwärtigen Jugendschutzgesetzes neu beurteilen zu wollen. In dem hier skizzierten Rahmen erscheint es kaum durchführbar auf der Grundlage gegenwärtiger Wissens- und Normbestände, der Grundlage der erhaltenen durch die NS-Justiz geprägten Dokumente und den oft unter Anwendung von Gewalt erzwungenen Aussagen der Betroffenen, vergangene historische Praktiken – gemeint sind sowohl sexuelle Handlungen wie auch die Praxis der Strafverfolgung – neu zu betrachten, zu interpretieren und beurteilen zu wollen.60 Die Urteile der NS-Rechtsprechung entstammen einem genuinen Unrechtssystem.
Die vorliegende Studie erachtet den § 175 (R)StGB als Unrechtsparagraphen. Vor diesem Hintergrund plädiert sie für einen differenzierten Zugang zu dieser Problematik und gibt zu bedenken, dass der Unrechtscharakter von NS-Strafgesetzgebungen in Bezug auf (mutmaßliche) Sexualstraftäter – so zeigt es auch die Regelung zur Rehabilitierung der Opfer des § 175 RStGB von 2002 – nicht unmittelbar evident erscheint.61 Der Erforschung des NS-Unrechts an dieser Gruppe stehen historisch-gesellschaftlich