Название | Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert |
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Автор произведения | Julia Noah Munier |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170377554 |
Abb. 4: Staatliche Gliederung bis Kriegsende 1945 im Gebiet des heutigen Baden-Württembergs.
Im Verlauf der sogenannten NS-Gleichschaltung der ehemals föderalen Verwaltungen der Gebiete des historischen Württembergs, Hohenzollerns106 und Badens,107 zu dem von 1940 bis 1945 auch das im Zuge des Frankreichfeldzugs von der deutschen Wehrmacht besetzte Elsass gehörte, mussten die Länder Baden und Württemberg zwar wichtige Kompetenzen an das Reich abtreten, behielten aber wesentliche institutionelle Zuständigkeiten.108 Die »[…] praktische Umsetzung der Verwaltung, die Polizei und die Gerichte« – und damit auch die Verfolgung und Repression von homosexuellen Männern bzw. nach den §§ 175, 175 a – blieb »in großen Teilen Aufgabe der Kommunen und Länder.«109
Trotz der politisch-geografischen Begrenzung dieser Studie auf die Region des heutigen Baden-Württemberg ist es unerlässlich, punktuell über die jeweiligen Landesgrenzen forschend hinauszublicken – etwa, wenn es um die Dokumentation der grenzüberspannenden Lebenswelten homosexueller Männer im deutschen Südwesten geht.110 Aber auch wenn es gilt, die Verfolgungsschicksale homosexueller Männer über die Landesgrenzen hinaus zu erfassen, beispielsweise dann, wenn sie in nationalsozialistische Konzentrationslager jenseits der badischen und württembergischen Landesgrenzen, etwa in das bei München gelegene KZ Dachau,111 in das bei Weimar gelegene KZ Buchenwald112 oder das bei Berlin liegende KZ Sachsenhausen113 verbracht wurden.
Die Verfolgung in der Region des Elsass wird in dieser Studie nur unter Auswahl spezifischer Aspekte berücksichtigt. Im Zuge des Frankreichfeldzugs wurde das Elsass im Jahr 1940 von deutschen Truppenverbänden besetzt und der badischen Verwaltung unterstellt. Bekannt ist, dass die NS-Regierung im Elsass eine brutale »Germanisierungspolitik« verfolgte.114 Vielleicht weniger bekannt ist, dass die NS-Verfolgung homosexueller Männer im deutschen Südwesten mit der Besetzung des Elsass und der Einführung des deutschen Strafrechts im Januar 1942 (Strafrechtsverordnung für das Elsass) auch auf dieses Gebiet ausgeweitet wurde und hier mit der Einführung des NS-Strafrechts besonders rigide verlief.115 Die Verfolgung homosexueller Männer im besetzten Elsass ist inzwischen relativ gut erforscht. Hingewiesen sei auf die Publikationen der Historiker Régis Schlagdenhauffen »Désirs condamnés. Punir les ›homosexuels‹ en Alsace annexée, 1940–1945« (2014),116 Frédéric Stroh »Être homosexuel en Alsace et Moselle annexées de fait« (2017) und Jean-Luc Schwab »Die Homosexuellenverfolgung im annektierten Elsass (1940–1945)« (2018).117
In den Vogesen ließ der Badische Gauleiter und Reichsstatthalter Robert Wagner das sogenannte Sicherungslager Schirmeck errichten, das in Vorbruck bei Schirmeck von August 1940 bis November 1944 betrieben wurde. Ebenfalls im besetzten Elsass wurde das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof als das größte KZ des deutschen Südwestens errichtet. Es bestand vom 1. Mai 1941 bis zum 23. November 1944. Ab 1944 war der deutsche Südwesten von einem dichten Netz von Konzentrationslagern durchzogen, meist Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof. Nicht nur homosexuelle Männer aus der Region des heutigen Baden-Württembergs wurden durch ihre Inhaftierung in diesen und anderen Lagern eingebunden in das NS-System »Vernichtung durch Arbeit«.118 Auch vor diesem Hintergrund gilt es den Forschungsblick über die heutigen Landesgrenzen hinaus zu richten.
Die vorliegende Studie weist drei Schwerpunktsetzungen auf. In einem ersten Schritt rücken die Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in der Weimarer Republik in den Fokus (Kapitel 2:Baden ist nicht Berlin und Württemberg nicht Weimar. Lebenswelten in der Weimarer Republik). Dabei stellt sich die Frage nach der Gestalt der Lebenswelten homosexueller Männer in den 1920er und zum Beginn der 1930er Jahre, also nach den Szenen, Treffpunkten und Aktivitäten homosexueller Männer in den städtischen Zentren Badens und Württembergs.
Vor diesem Hintergrund rücken in einem zweiten Schritt die Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in der Zeit des NS-Terrors (1933–45) in den Fokus dieser Studie (Kapitel 3:Lebenswelten und Verfolgungsschicksale im nationalsozialistischen Baden und Württemberg). Hier gilt es, die sukzessive entstehende Repression gegen die von homosexuellen Männern frequentierten Lokale, Vereine und Treffpunkte bis zur Zurückdrängung und Zerstörung der Lebenswelten zu untersuchen. Dabei ist die These leitend, dass die Ereignisse um den 30. Juni 1934 und die schlagartig einsetzende Verfolgung homosexueller Männer als Staatsfeinde sowie die Verschärfung des § 175 RStGB im Jahr 1935 für homosexuelle Männer in Baden und Württemberg ähnliche Auswirkungen gehabt haben dürften wie im übrigen Reichsgebiet. Schwerpunktsetzungen erfolgen hier im Hinblick auf die Lebenswelten im Kontext der Verfolgungsinstitutionen wie Strafvollzug und Heil- und Pflegeanstalten, im Hinblick auf das Verfolgungsschicksal Kastration und die Verbringung in NS-Konzentrationslager als Sondermaßnahme. Dieses Kapitel endet mit einem Unterkapitel zu Lebenswelten trotz Verfolgung im Schweizer Exil.
Abschließend gilt es nach der Situation homosexueller Männer im demokratischen Baden und Württemberg als Teil der Bundesrepublik Deutschland zu fragen (Kapitel 4:Lebenswelten und Verfolgungsschicksale im bundesrepublikanischen Baden-Württemberg). Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich hier vorwiegend auf die Jahre 1949–1969. Sie fragt somit dezidiert nach Fluchtlinien und Kontinuitäten der Verfolgung, einer spezifisch neuen Verfolgungsqualität unter demokratischem Vorzeichen und hat dabei sowohl institutionelle wie personelle Kontinuitäten im Blick. Gerade die Präsentation von Verfolgungsschicksalen der vor 1960 homosexuell lebenden Männer ist durch das zunehmende Versterben von Zeitzeugen besonders dringlich. Zugleich fragt die Studie dezidiert nach den Lebenswelten homosexueller Männer und den emanzipatorischen Bemühungen der Akteure der Homophilenbewegung sowie nach den Liberalisierungsbestrebungen im bundesrepublikanischen Baden-Württemberg. Den Schlusspunkt der Studie bildet das Jahr 1969, in dem der sogenannte Homosexuellenparagraf zwar nicht abgeschafft, aber entscheidend liberalisiert wurde.119
Mit dieser Schwerpunktsetzung soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass die Verfolgung homosexueller Männer im bundesrepublikanischen Baden-Württemberg mit dem Jahr 1969 aufhörte. Dem ist nicht so. Der ehemalige Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD), der Bundesanwalt a. D. Manfred Bruns (1934–2019) hat während der Tagung »Späte Aufarbeitung. Lebenswelten von LSBTTIQ-Menschen im deutschen Südwesten.« (27.–28.06. 2016, Bad Urach) betont, dass gerade das Enden vieler wissenschaftlicher Arbeiten mit der historischen Zäsur der großen Strafrechtsreform vom 1. September 1969 problematisch sei, da dies suggeriere, nach dieser habe keine Strafverfolgung