Название | Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert |
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Автор произведения | Julia Noah Munier |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170377554 |
Stellvertretend für die zahlreichen anonym bleibenden historischen Akteure und Akteur_innen, denen ich oft durch die Brille der Forschung in ihr Privatestes blicken konnte und bisweilen auch musste – ein Blick, der auch für mich oft schmerzhaft war – danke ich den Zeitzeugen Alfred, Helmut Kress, Richard Moosdorf und Heinz Schmitz sehr, sehr herzlich.*
Last but not least danke ich Maria Magdalena Mayer, E.M. Diflo und ganz besonders Brigitte und Hans-Jürgen Munier für ihre Unterstützung meiner Arbeit.
Stuttgart im Mai 2020
Julia Noah Munier
* Bei den Namen Alfred und Heinz Schmitz handelt es sich um selbstgewählte Pseudonyme.
1 Einleitung
»Auch uns scheint wieder die Sonne und blühen wieder die Blumen.«1
»Das Kriminalrecht bestraft nicht Sünden; das weltliche Recht ist kein antizipiertes Jüngstes Gericht. Das staatliche Recht muß sich auf den Schutz elementarer Rechtsgüter beschränken.«2
»Mir bleibt ein Rätsel, warum ich 1933 dieses gottselige Land nicht verließ. Heute weiß ich’s: ich wollte am eigenen Leibe erfahren, bis zu welchem Grad der Selbsterniedrigung dieses Volk gehen konnte. […] Und ich weiß auch, worauf ich jetzt noch warte. Ich möchte noch einmal vor einem Richter stehen, diesmal wird es aber ein demokratischer Richter sein, um hören zu können, was der nun zu sagen haben wird. Ca vaut très bien une leçon [sic]. Als zuständige Richter würde ich nur zwei Menschen anerkennen: André Gide und Kurt Hiller. Ihren Spruch erkenne ich bedingungslos an.«3
»Sie wollten damals, als Sie mich verhörten und auf die Probe stellen wollten, ich hätte mich doch einer Tat schuldig gemacht, Sie sagten gar mal zu mir, ich hätte ein schlechtes Gewissen […]. Ich habe es wohl bemerkt, was Sie allerhand bei mir versuchten, um allerhand noch bei mir herauszupressen. Werter Herr Dr. das alte Sprichwort heißt: ›Mit Speck fängt man Mäuse‹. Das ist bei mir leider nicht der Fall. Ich wiederhole es Ihnen noch einmal, dass ich ein ruhiges und festes Gewissen habe.«4
»Ich tue doch eigentlich nichts Verbotenes, ich betätige mich doch nur so, wie meine inneren Gefühle es vorschreiben. Für meine Auffassung wäre es […] unsittlich, wenn ich mit einer Frau vertraulichen Verkehr pflegen müsste. Die Gesetze sind sehr hart. Warum bestraft man uns.«5
»[…] ich war halt so, und so wie’s isch, so isch’s […].«6
Die vorliegende Studie ist den ungenannten Opfern des § 175 (R)StGB im deutschen Südwesten gewidmet.7 Die obigen Zitate vermitteln einen anschaulichen Eindruck davon, worum es der vorliegenden Studie geht: die Selbstentwürfe und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im Zeitraum zwischen 1919 und 1969 darzustellen. Der gewählte Zeitraum umfasst drei unterschiedliche politische Systeme – die Weimarer Republik, das NS-Regime und die Bundesrepublik Deutschland. Die Studie endet mit der Liberalisierung des § 175 StGB im Zuge der bundesrepublikanischen Strafrechtsreform unter dem Bundesminister der Justiz Gustav Heinemann (SPD) in der von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) geführten Großen Koalition im September 1969. Auf diese Weise können Kontinuitäten in den Blick genommen werden, welche politische Zäsuren überschreiten. Angesichts erheblicher Forschungslücken8 erfordert ein solcher Längsschnitt, Fragestellungen in den Vordergrund zu stellen, die kulturelle Phänomene der »longue durée« zu erfassen imstande sind und sich weniger an politikhistorischen Erscheinungen abarbeiten. Die Kategorie der »Lebenswelten« ist daher der Kernbegriff der vorliegenden Studie, wobei es sich gleichsam von selbst versteht, diese »Lebenswelten« in den übergreifenden politischen Kontext einzuordnen und in die jeweilige Sexualpolitik einzubetten.9
An dieser Stelle ist ein kleiner Exkurs zur zweiten Leitkategorie »homosexuelle Männer« angebracht,10 die in sich hochgradig differenziert ist. Der Begriff »homosexuelle Männer« dient als Sammelkategorie, die sich des Umstandes bewusst ist, dass damit die Diversität der Lebenswelten homosexueller Männer nicht in jedem Fall abgebildet werden kann.11 Der Berliner Kulturwissenschaftler Andreas Pretzel betont in diesem Kontext ausdrücklich, dass selbst die staatlich verfolgten homosexuellen Männer keine homogene Gruppe bildeten hinsichtlich vergleichbarer Lebensbedingungen, sexueller Identitäten, Mentalitäten und Erfahrungen.
»Die Verfolgten unterschieden sich aufgrund sozialer Ungleichheiten bedingt durch Herkunft, Milieu- und Klassenzugehörigkeit, finanzielle und intellektuelle Ressourcen, politische Gesinnungen und durch unterschiedliche sexuelle Präferenzen.«12
Daraus lässt sich in methodischer Hinsicht die Forderung ableiten, die spezifischen Konstellationen historisch-systematisch zu erfassen, in denen homosexuelle Männer ihre Lebensentwürfe zur Entfaltung zu bringen suchten. Dies ist ein Ansatz, der von dem Historiker Sven Reichardt als »praxeologische Geschichtswissenschaft« bezeichnet worden ist und der sich auch die vorliegende Studie verpflichtet weiß.13 Dabei ist letztlich auch zu berücksichtigen, dass die Gruppe homosexueller Männer strafrechtlich geformt wurde: Sie wurde als spezifisches kriminalisiertes Subjekt hervorgebracht. Die Subjektivation als »Homosexueller« folgte dem doppelten Verständnis von »subjectum« entsprechend, als Unterwerfung und (Selbst-) Ermächtigung.14
»Damit die staatliche Verfolgung Homosexueller in der Forschungslandschaft zur NS-Verfolgung eine angemessene Beachtung und Unterstützung erfährt, bedarf es eines Bewusstseinswandels in den Institutionen der Geschichtsforschung und -vermittlung. Das gilt ebenso für die Aufarbeitung staatlichen Unrechts nach 1945. Auch hierzu herrscht erheblicher Nachholbedarf, um Geringschätzung und vorhandene Berührungsängste beim Thema Homosexualität zu überwinden.«15
Diese Feststellung eines Experten schärft den Blick für den Forschungskontext, der auch für die vorliegende Studie relevant ist. Warum geschieht die Erforschung und die sogenannte Aufarbeitung der Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg erst jetzt, mehr als 80 Jahre nach der NS-Verschärfung des § 175 RStGB in Folge des »Röhm-Putsches«16 und rund 50 Jahre nach der großen bundesrepublikanischen Strafrechtsreform von 1969, in einem größeren akademisch-wissenschaftlichen Rahmen?17
Lange Zeit waren es Betroffene, welche die »Aufarbeitung« der Verfolgungsschicksale homosexueller Männer initiierten und deren Geschichte beharrlich erforschten.