MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág. Группа авторов

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Название MUSIK-KONZEPTE Sonderband - György Kurtág
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783869168807



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»erstarren«29 – eine quasi-theatralische Intensität, die eine szenische Bildfolge imaginieren lässt.30 Die Herausforderung besteht nun darin, die Einzelgesten zu einem im weitesten Sinne sprachähnlichen Ganzen zu formen. Dabei bezieht sich Kurtág auf Ligeti: Ähnlich wie in den NouvellesAventures (1962–65) entsteht ein »parataktisch disponiertes Gebilde, eine gleichsam zerbrochene Form« dadurch, dass parallele Abläufe schichtenartig überlagert und »zunehmend ineinander verschlungen«31 werden. Im Lauf der Zeit wurden diese Verfahren von Kurtág beständig weiterentwickelt.

      »… le tout petit macabre – Ligetinek«

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      Notenbeispiel 4/ 1: … le tout petit macabre – Ligetinek, aus: … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–97) für Bariton, Streichtrio und Schlagwerk (Abschnitt 1, Analyse)

      In Abschnitt 2 (Notenbeispiel 4/2) werden die Bezüge noch weiter verdichtet. Analog zu Abschnitt 1 beziehen sich die Phrasen II/2 und II/3 (»un jour«; »un beau jour«) textlich aufeinander. »Un beau jour« (II/3) ist allerdings wiederum vom Vorigen abgesetzt, und zwar durch ähnliche Mittel wie in Abschnitt 1: erstens durch die Fermaten (»Rhythmus/Artikulation«), zweitens durch die ironische Vortragsanweisung troppo dolce (»Stimmklang«), drittens durch die Violoncello-Färbung (»Instr.-Klang«: arco, ord., dolce) sowie viertens durch den Abbruch des Linienzugs (»Chromatische Linienzüge«: beim gis) und Reihenverlaufs (vgl. »Reihenanalyse«: beim 9. Ton).

      Die Phrasen I/5 und II/3 haben also einige Gemeinsamkeiten: Neben dem Text »un beau jour« ist es auch eine gewisse Zäsur- und Kontrastfunktion, die sie miteinander verbindet. Dieser gestische und strukturelle Schnitt ermöglicht das Sammeln neuer Kräfte. Im Folgenden wird deutlich, dass die damit freiwerdenden Energien auf die letzte Phrase (II/6) hin gebündelt werden. Im dichten Beziehungsgeflecht kommt dieser Geste in mehrfacher Hinsicht besondere Bedeutung zu: Erstens bezieht sie sich in Rhythmus und Sprache auf I/1 und II/1. Zweitens greift sie den in der Luft hängengebliebenen Spitzenton von II/3 (gis′) wieder auf (vgl. »Chromatische Linienzüge«). Drittens gibt es enge Tonhöhenbezüge zu II/2 und II/3 (und dadurch zu I/2,3 und I/5; »Tonhöhen-Varianten«). Und viertens werden mit dieser letzten Geste der Satztitel (»… imagine …«) und alle damit verbundenen Assoziationen in Erinnerung gerufen.

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      Notenbeispiel 4/ 2: … le tout petit macabre – Ligetinek, aus: … pas à pas – nulle part … op. 36 (1993–97) für Bariton, Streichtrio und Schlagwerk (Abschnitt 2, Analyse)

      Aus anderer Perspektive wird II/6 aber zu einem überraschenden Neuansatz: In der Stimme ist erstmals die Dynamik f, cresc. vorgeschrieben. Der Zickzack-Gestus von II/1 wird in sein Gegenteil verkehrt. Ferner folgt ein abrupter Ausbruch des Schlagwerks, das bis dahin unauffällig den Vokalpart gefärbt hatte. Die letzte Geste II/6 ist also einerseits in die Stimmigkeit des Beziehungsgeflechts eingebunden, sprengt aber andererseits zugleich die strukturell und klanglich definierten Maßstäbe. Dies zeigt, wie es Kurtág gelingt, singuläre profilierte Gesten herauszuarbeiten und diese durch extreme strukturelle Verdichtung über sich selbst und schlussendlich auch über die Grenzen der Miniaturformen hinausweisen zu lassen.