Nikomaus & Murmelbär. Adora Belle

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Название Nikomaus & Murmelbär
Автор произведения Adora Belle
Жанр Языкознание
Серия Alles Geschmackssache
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783961921164



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vollkommen recht: Was tut man nicht alles …?

      Ich zum Beispiel stelle mir gerade in den lebhaftesten Farben vor, Niko mit bloßen Händen zu erwürgen!

      Laut sage ich jedoch, wenn auch zähneknirschend: „Stimmt. Was täte ich nur ohne meinen Kumpel Niko?“

      Mein Lächeln fällt etwas gezwungen aus und in Gedanken füge ich noch eine ganze Liste mit den Dingen hinzu, die ich jetzt – im Gegensatz zu dieser Schmierenkomödie hier – wirklich gern tun würde.

       Warte nur, wenn wir nachher zu Hause sind, Freundchen!

      Alexander schaut zwischen uns hin und her. Sein Blick ist etwas skeptisch und Niko versetzt mir unter dem Tisch einen raschen Tritt vors Schienbein, der mich zusammenzucken lässt, lächelt aber dabei weiter in Alexanders Richtung.

      „Okay“, meint der schließlich. „Dann lass uns doch zuerst mal über ein paar grundsätzliche Dinge reden. Also darüber, wie wichtig Essen für dich ist, wie deine Ernährung normalerweise aussieht, was für ein Sport dich interessiert und so was alles.“

      „Na, ich würde sagen, Essen ist auf jeden Fall verdammt wichtig“, erwidere ich leicht sarkastisch, lehne mich zurück und verschränke die Arme. „Ich wüsste zumindest noch von keinem, dem es gelungen wäre, komplett damit aufzuhören. Ich hab zwar schon mal gehört, dass es den einen oder anderen Spinner geben soll, der meint, sich per Fotosynthese ernähren zu können, aber vielleicht sind diese Typen ja auch bloß die nächste Stufe der menschlichen Evolution oder so was Ähnliches. Ich bin mir jedenfalls ziemlich sicher, dass ich nicht dazugehöre.“

      Niko schaut mich entsetzt an und Alexander runzelt kurz die Stirn.

      Ach? Habe ich den Herrn Fitness- und Lifestyle-Guru jetzt etwa vergrätzt? Super, dann geht dieser Kelch ja womöglich an mir vorüber und der Tag ist vielleicht doch noch zu retten?

      Im nächsten Moment entspannt sich Alexanders Miene wieder und dann grinst er sogar eindeutig amüsiert. Mist.

      „Dein Sinn für Humor gefällt mir. Aber nein“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Das mit der Photosynthese funktioniert garantiert nicht, da bin ich mir sehr sicher. Ansonsten mach dir mal keine Sorgen. Ich kann dir versichern, dass du auch unter meiner Obhut satt werden und obendrein mit Genuss essen kannst. Wenn du meine Videos schon kennst, dann weißt du ja auch sicher, dass ich den Schwerpunkt weniger auf strikte Diät als auf Ernährungsumstellung lege.“ Er hebt bedeutungsvoll eine Braue und in seinen Augen blitzt erneut ein belustigter Funke auf.

      Hm, kann es etwa sein, dass er Nikos Scharade durchschaut und längst kapiert hat, dass ich in Wahrheit nicht das geringste Interesse daran habe, meine Ernährung umzustellen? Mit anderen Worten, dass Niko und ich hier gerade vorgeführt werden?

      „Aber das war es eigentlich nicht, worauf ich mit meiner Frage abgezielt habe“, fährt er fort und wird wieder ernst. Dann verschränkt er die Finger vor sich auf der Tischplatte und ergänzt: „Mir ging es eher darum, ob du dich zum Beispiel mit Essen belohnst oder tröstest. Der Grundstein für solche Mechanismen wird ja häufig schon in der Kindheit oder frühen Jugend gelegt und später fällt es dann extrem schwer, diese Gewohnheiten wieder loszuwerden. Was würdest du sagen – ist es bei dir so?“

      Jetzt bin ich derjenige, der die Stirn runzelt. Aber gleich darauf ertappe ich mich dabei, dass ich tatsächlich über die Frage nachdenke.

      „Na ja“, sage ich schließlich achselzuckend. „Als kleiner Junge war ich eher zu dünn. Meine Mutter war immer besorgt, ich würde nicht genug essen. Später änderte sich das aber leider und in der Mittelstufe nannten mich dann schon alle Klößchen.“

      Alexander nickt mit ernster Miene.

      „Klößchen? Wie nett“, kommentiert er ironisch. „Wurdest du darüber hinaus gemobbt? Wegen deiner Figur, meine ich?“, will er wissen und plötzlich regt sich Trotz in mir. Was geht ihn das denn überhaupt an? Ich meine, ich bin ihm vor fünf Minuten zum allerersten Mal begegnet, muss er mich da jetzt schon solche persönlichen Dinge fragen? Und vor allem: Muss er die wirklich wissen, nur um mir seine sogenannte Ernährungsumstellung schmackhaft machen zu können?

      Oder geht es ihm in Wahrheit vielleicht nur darum, sich genug Material zu verschaffen, um sich später bei seinen Freunden über mich lustig machen zu können und die Lacher auf seiner Seite zu haben? Denn ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass ein Kerl wie er einen riesigen Freundeskreis hat und in meiner Einbildung sind das natürlich auch alles solche Traumkerle wie er selbst einer ist.

      Was liegt da näher als die Vorstellung, dass diese imaginären Schönlinge sich geradezu ausschütten vor Lachen, wenn Alexander ihnen von dem bedauernswerten Klops erzählt, der ihm tränenreich das Herz ausgeschüttet hat und sich nichts sehnlicher wünscht als das, was er nie und nimmer haben kann? Nämlich endlich dazuzugehören, einer von ihnen zu sein und auszusehen wie Mr. Schön und Sexy himself, Alexander Kleist?

      Klar, meint mein Schulterteufelchen und schwenkt lässig seinen Dreizack in Alexanders Richtung. Guck dir den Typen doch nur an! Der schaut doch garantiert jeden Morgen in den Spiegel und würde sich am liebsten selbst ficken!

      Ja, vermutlich, denke ich mir meine Erwiderung in seltener Eintracht mit meinem persönlichen Dämon. Und witzig ist er auch noch! Man denke nur an dieses gelungene Wortspiel: Ernährungsumstellung und schmackhaft machen!

      „Ich glaube nicht, dass das hier irgendwas zur Sache tut“, erkläre ich entsprechend kühl.

      Alexander erwidert meinen Blick stumm, wirkt regelrecht nachdenklich, und ich merke, dass Niko neben mir ganz unruhig wird. Vermutlich sieht er schon seine Felle wegschwimmen. Soll mir aber egal sein, ich wollte schließlich von Anfang an diesen Scheiß nicht machen. Hätte ich mich doch bloß nicht von ihm dazu überreden lassen!

      „Ähm, vielleicht … sollten wir diesen Punkt … Ähm, ich weiß nicht, erst mal überspringen oder so?“, stottert er jetzt, während ich schon drauf und dran bin, die ganze Farce zu beenden, indem ich einfach verschwinde. Doch plötzlich kommt Leben in Alexander. Er lehnt sich nach vorn und greift in seine Gesäßtasche, holt seinen Geldbeutel raus und klappt ihn auf. Ich erwarte halb, dass er einen Schein auf den Tisch legt oder der Bedienung winkt, um zu zahlen und dann einfach abzuhauen, aber stattdessen zieht er ein reichlich mitgenommen wirkendes Foto aus einem der Fächer und legt es zwischen uns auf den Tisch.

      „Das war ich“, sagt er und deutet darauf. „Mit achtzehn. Zu der Zeit wog ich 125 Kilo und wurde von allen in meiner Klasse nur Fettsack, Schwabbel oder Tonne genannt. Damals hatte ich schon unzählige Diätversuche hinter mir und jedes Mal hat anschließend der Jo-Jo-Effekt ein bisschen härter zugeschlagen. Das Foto hier ist zwei Wochen vor einem Suizidversuch entstanden.“ Er grinst schief.

      „Na ja, Suizidversuch ist ein großes Wort für das, was ich gemacht habe. Ich wollte halt einfach nicht mehr so weiterleben und bin eines schönen Tages aufs Dach meiner Schule gestiegen, um runterzuspringen. Aber als ich dann an der Kante stand und runterschaute, hab ich plötzlich Angst bekommen. Um es kurz zu machen: Ich bin nicht gesprungen, aber ich hab mir selbst ein Versprechen gegeben. Ich hab mir gesagt, dass ich mir noch eine letzte Chance gebe, mein Leben komplett ändere und endlich dauerhaft abnehme. Ein letzter Versuch noch, und wenn der wieder misslingt, mache ich ernst und blase mir endgültig das Licht aus.“

      Er zuckt die Achseln.

      „Und da ich heute hier vor euch sitze, könnt ihr euch denken, dass es tatsächlich geklappt hat. Vielleicht lag es ja daran, dass ich im Grunde gar nicht sterben wollte, keine Ahnung, auf jeden Fall hab ich diesen letzten Versuch zum ersten Mal völlig anders angefangen. Ich wollte es richtig machen und hab deshalb nicht wieder irgendeine Diät ausprobiert, die schnelle Erfolge verspricht, sondern bin als Erstes zu meinem Hausarzt gegangen. Der war sehr verständnisvoll, hat mich ausführlich untersucht und schließlich zu einer Ernährungsberatung geschickt. Von da an ging es tatsächlich nicht nur abwärts mit meinem Gewicht, sondern ich schaffte es auch, die Abnahme zu halten, indem ich meine Ernährung und meine