Das Ministerium für Sprichwörter. Otto Grünmandl

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Название Das Ministerium für Sprichwörter
Автор произведения Otto Grünmandl
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783709939321



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Theater trieben.

      Und wie zur Bestätigung seiner Gedanken kam auch schon einer der Verkäufer herein und fragte nach der Restschuld der Krescentia Haferle, die dieselbe jetzt begleichen wolle.

      „Einen Moment“, sagte Pizarrini, „das werden wir gleich haben.“

      Krescentia Haferle stand in den Kundenkonti unter H10 und wies eine Restschuld von Kronen 142,37/100 auf.

      Der Verkäufer ging hinaus, und Pizarrini sinnierte weiter.

      Gut, über den Vorhangteil, der die Sakristei vom sakralen Raum trennte, wollte er sich kein Urteil erlauben. Was aber das Spielzimmer in jenem Kaffeehaus betraf, so war das ganz bestimmt Theater, denn er hatte darin noch nie jemanden spielen, wohl aber ein verdrecktes Fahrrad und sonstiges altes Gerümpel stehen gesehen. Ach, das ist alles Theater, dachte er, Theater und Großtuerei. Das einzige, was ihm frei von Theater schien, war der Verwendungszweck, dem der Leichenbestatter seinen Vorhangteil zugeführt hatte. Ein Leichenbestattungsunternehmen, das schien ihm das reellste Geschäft von allen, und er bedachte immer wieder, daß man eigentlich im Leben eines Menschen mit nichts so sicher rechnen könne als mit der Tatsache, daß er sterben werde. Diese unumstößliche Tatsache zur Grundlage eines Geschäftes gemacht zu haben, hielt er für die genialste Idee, die ein kaufmännisch veranlagtes Gehirn je hervorgebracht hatte. Auf der Suche nach Dingen, die im menschlichen Leben eine ähnliche, unausbleibliche Rolle spielten wie der Tod, kam er im Anschauen seiner noch nicht zu Ende gegessenen Käsesemmel zunächst auf das Essen und dann in schneller Reihenfolge auf das Schlafen, Kranksein und sodann merkwürdigerweise ohne weitere Zwischenstation auf die „Weiber“. (Mit welch etwas rüdem Ausdruck sich ihm unbewußt natürlich ein ganzer Komplex von „damit“ Zusammenhängendem verband.) ‚Merkwürdigerweise‘ deshalb, weil er wahrscheinlich seiner Jugend wegen gewissen vorgefaßten Meinungen zur Stunde noch immer so stark unterworfen war, daß er bisher noch nie etwas „damit“ zu tun gehabt hatte. Warum, fragte er sich, einer plötzlichen Eingebung folgend, warum soll dieses Zusammentreffen der Geschlechter gar so sicher und unausbleiblich sein? Die Antwort, die er sich im selben Atemzug darauf gab, war zwar sehr simpel, hatte aber für ihn die größte Überzeugungskraft, die eine Antwort haben konnte. Ganz einfach deshalb, sagte er sich, weil sich das nun einmal so gehört. Und er beschloß bei sich, nachzuholen, was versäumt zu haben, würde er jetzt vom Tode ereilt werden – was völlig von der Hand zu weisen, vermessen erschien –, ihm zweifellos als Manko angerechnet werden würde.

      Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, beugte er sich wieder über seine Arbeit, als hätte er nur eben seine alltägliche Käsesemmel gegessen und nicht auch einen ungewöhnlichen Entschluß gefaßt.

      Die Bordellwirtin sah – was Wunder, jeder Beruf färbt eben auf seine Leute ab – wie eine Bordellwirtin aus oder, besser, wie man sich eine solche vorstellt.

      Fischaugen, vorsichtig lauernd hinter großen, schweren Tränensäcken, die einem Bankdirektor Ehre gemacht hätten. Schütteres, schlecht gefärbtes, wie Taft changeant schillerndes Haupthaar auf einem massigen, anscheinend nur aus Fleisch bestehenden Kopf, der ohne Hals in einen ebensolchen Rumpf überzugehen schien.

      Pizarrini hatte seinen beim Einnehmen der üblichen Vormittagsjause gefaßten Entschluß, die Sache mit den Weibern schleunigst nachzuholen, schon in der nächsten freien Stunde in die Tat umgesetzt, und so kam es, daß er zu einer ganz ungewöhnlichen Zeit in dem verrufenen Haus erschien: in der Mittagspause.

      Die Alte, die ihm aufgemacht hatte, war denn auch geradewegs aus der Küche gekommen. Sie hatte eine weiße Schürze umgebunden, unter der ein Paar dicke, pantoffelbewehrte Füße hervorschauten. Sie blickte ihn aus ihren Fischaugen kurz an, und war es nun die ungewohnte Zeit oder vielleicht auch die Tatsache, daß er ihr sicher einen gänzlich anderen Eindruck als die üblichen Besucher machte, auf jeden Fall hielt sie ihn zunächst für einen Agenten und sagte, indem sie sich ihre dicken, nackten Arme mit der Schürze abwischte, kurz und abweisend: „Wir brauchen nichts.“

      Er hatte ein eigentümliches, beklemmendes Gefühl im Magen, sah sie unverwandt an und gab ihr keine Antwort.

      „Ach so“, sagte sie, ihr erstes Urteil revidierend, taxierte ihn noch einmal rasch mit geübtem Blick und schrie dann mit rauher Stimme einen langen, sich im Dunkel verlierenden Gang hinunter: „Tonschi, ein Gast ist da.“

      Bald darauf kam in schwarzem Schwimmtrikot und roten Hausschuhen die von der Alten herbeigerufene Tonschi, eine vollschlanke, üppige Schwarze von etlichen dreißig Jahren, den Gang herauf.

      Sie ging ganz nahe an ihn heran, beugte ihren Kopf vor und sagte, was ihn überaus befremdete, ganz einfach: „Burschi, komm!“

      Die Wirtin sah ihnen mit einem ärgerlichen Kopfschütteln nach und murmelte etwas von einem fetten, geilen Engerling, der einem nicht einmal einen ruhigen Mittag gönne.

      Er indessen folgte mit leisem Widerwillen der üppigen Tonschi in ihre nach abgestandener, ranziger Sinnlichkeit riechende Kammer.

      Sie schloß die Tür hinter ihm zu und sagte: „Zuerst zahlen.“

      Das erbitterte ihn, und um so mehr gereizt, als er noch nicht einmal zu Mittag gegessen hatte, antwortete er: „Natürlich, oder glauben Sie, ich wollte auf Kredit?“

      Sie blieb davon ganz unberührt und sagte lediglich: „Zehn Kronen.“

      Er legte ihr fünfzehn hin. Sie nickte zufrieden und sagte: „Dafür sollst du was Schönes haben.“

      Dann zog sie sich ihr Trikot aus und legte sich auf die Couch.

      Als er keine Anstalten machte, etwas Ähnliches zu tun – das beklemmende Gefühl in der Magengegend hatte sich inzwischen wieder eingestellt –, sagte sie abermals: „Burschi, komm!“

      Er hätte am liebsten kehrtgemacht und wäre gegangen, hätte es wohl auch getan, wäre ihm nicht plötzlich eingefallen, daß er sie dadurch möglicherweise gefährlich kränken könnte, und das wollte er nun auch wieder nicht. Inzwischen war ihr natürlich sein ungewöhnliches Benehmen aufgefallen. Sie setzte sich auf und fragte: „Was ist denn los mit dir?“

      „Nichts“, sagte er, „nichts. Ich glaube, ich … Sie dürfen nicht beleidigt sein, Sie haben wirklich eine gute Figur.“

      „Quatsch keinen Blödsinn“, unterbrach sie ihn, und als fiele ihr etwas ein und als biete sie ihm etwas zu trinken an, „soll ich dich schlagen?“

      „Wozu das?“ fragte er erstaunt.

      „Mein Herr“, erwiderte sie bebend, ihre Geduld war zu Ende, „mein Herr, ich lasse mich von Ihnen nicht zum Narren halten. Verschwinden Sie!“ Und kühl, geschäftsmäßig, setzte sie hinzu: „Das Geld bekommen Sie natürlich nicht zurück.“

      „Das verlange ich doch gar nicht. Ich will Sie auch nicht zum Narren halten. Ich habe nur, verstehen Sie doch, ich habe“, er suchte verzweifelt nach dem richtigen Wort, endlich fiel es ihm ein, „ich habe nur keine Lust, verstehen Sie, keine Lust.“

      „Warum?“ fragte sie und blickte ihn vollkommen verständnislos an. „Warum sind Sie denn dann überhaupt hierhergekommen?“

      Warum? Ja, warum war er hierhergekommen? Das war doch völlig klar, wie konnte sie ihn nur so was fragen? „Der Ordnung halber“, erwiderte er ohne zu zögern, lächelte die Erbleichende freundlich an, schloß die Tür auf und ging hinaus.

      Mit gravitätischen Schritten stolzierte er durch den langen, dunklen Gang dem Ausgang zu. Dort verweilte er einen Augenblick, zündete sich eine Zigarette an, genoß die feine Wärme der winterlichen Mittagssonne, sah dem Rauch nach, versenkte sich einen weiteren Moment in den Anblick des blauen Himmels und spazierte dann gemächlich dem Speisehaus zu, in dem er seine Mahlzeiten einzunehmen pflegte.

      Pizarrini ging nach dem Mittagessen sofort in das Geschäft zurück und versenkte sich mit in einem ihm sonst zu dieser Tageszeit nicht eigenen Eifer in seine Arbeit. Dies war aber nur ein Zeichen dafür, daß ihm das Erlebnis während der Mittagspause mehr zu schaffen machte,