Das Ministerium für Sprichwörter. Otto Grünmandl

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Название Das Ministerium für Sprichwörter
Автор произведения Otto Grünmandl
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783709939321



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hinterfotzige Weise: „Nicht nur in der Malerei, auch in der Kochkunst haben wir die Mitte verloren.“ Die Formulierung war kein Zufall und bezog sich unmissverständlich auf Hans Sedlmayrs Buch Verlust der Mitte, eine in jenen Jahren äußerst populäre, vielfach diskutierte und höchst konservative kunsttheoretische Schrift, die in aller modernen Kunst den Untergang des Abendlandes witterte. „Oh Abendland, seufzte er vor sich hin, was für Menschen dirigieren diese Speisewagen“, wird es dann heißen, wenn die Erzählung samt Erzähler und einer „Neunerpackung Katzen“, deren Bedeutung an dieser Stelle nicht verraten sei, in den Abgrund stürzt. Dass sich die fragile, stellenweise fragmentierte Erzählung am Ende als Schwindel und Traum herausstellt, sollte die heutige Leserin jedenfalls nicht daran hindern, Pizarrini als ein Grundbuch der österreichischen Nachkriegsliteratur zu verstehen, für das Verständnis jener Zeit ebenso wichtig wie Ingeborg Bachmanns Unter Mördern und Irren.

      Als sich Otto Grünmandl fünfzehn Jahre später um das Jahr 1970 endgültig entschieden hatte, Schriftsteller zu sein, trat er einen Posten beim ORF an – die Bezeichnung der von ihm geleiteten Abteilung klang, als hätte er sie selbst erfunden: Unterhaltung Wort. Grünmandl widmete sich vorwiegend dem damals noch äußerst populären Genre des Hörspiels und verfasste mit Das Ministerium für Sprichwörter, das im renommierten S. Fischer Verlag in prominenter Umgebung erschien, einen maximal modernen Roman, der zugleich ein wenig barock wirkte. Die These sei gewagt: Otto Grünmandl war immer ein Autor, dem es gleichermaßen um modernes reflektiertes Erzählen wie um das Publikum ging, das er keinen Moment aus dem Blick verlor; hermetische Avantgarde-Gesten waren ihm fremd, so kryptisch sich der Meister des Bühnenwortes in seinen Texten auch geben mochte. Am Anfang von Das Ministerium für Sprichwörter wird der Leser noch in die sinistren Vorgänge dieses Roman-Gebäudes eingeweiht: Der Ich-Erzähler, der schon als Kind davon träumte, Kellermeister zu werden, sei instruiert, den Umstand seiner Anstellung wie seinen Namen geheim zu halten; andeutungsweise ist auch die Rede davon, dass er, der frühere Angestellte der Firma Elektro-Graf, nur über Protektion (und gegen den Widerstand seines Vaters) zum vierundvierzigsten Hilfsarchivar jener Institution wurde, deren eigentliche Tätigkeit im weiteren Verlauf im Dunklen bleibt. Seiner Bedeutsamkeit entsprechend ist das „Geheime Ministerium“ in einem verkommenen Palais untergebracht, das ein gewisser Graf Xandl zur Verfügung stellte, dessen größte, quasi programmatische Entdeckung in Erforschung und Darstellung der ägyptischen Finsternis bestand. Über die entsprechende biblische Plage heißt es im Alten Testament: „Mose streckte seine Hand zum Himmel aus und schon breitete sich tiefe Finsternis über das ganze Land Ägypten aus, drei Tage lang. Man konnte einander nicht sehen und sich nicht von der Stelle rühren, drei Tage lang. Wo aber die Israeliten wohnten, blieb es hell.“ Die von Graf Xandls Hand stammende Version der ägyptischen Finsternis, die im Eingangsbereich des Geheimen Ministeriums hängt, ist ein Stück schwarze Leinwand umgeben von einem schweren, prunkvollen Goldrahmen. Wer dabei an die geschwärzte Seite in Lawrence Sternes Tristram Shandy oder das berühmte Schwarze Quadrat von Kazimir Malewitsch denkt, hat den Hinweis auf den Ursprung aller Kunst im reinen Spiel der Abstraktion, von Abschweifung und purer Blödelei richtig verstanden! Es handelt sich um ein zentrales Prinzip der Moderne, das auch für Otto Grünmandl ausreichend Gültigkeit besaß, um es zitierend zu parodieren. Die Figuren des Romans – vom allmächtigen Portier über diverse Mitarbeiter wie Doktor Pellenschneider, seines Zeichens Erfinder der Konvertiermaschine für Sprichwörter, bis zum Minister, der in einem Turnsaal residiert, verfügen allesamt über ein Höchstmaß an groteskem Kolorit, das in eklatantem Widerspruch zur Obskurität ihrer Tätigkeiten steht. Wird in diesem Geheimen Ministerium vielleicht gar nichts getan, wie der Volksmund gerne behauptet? Weit gefehlt! Erste Lektion für jeden regelrecht zu initiierenden Mitarbeiter ist die Erkenntnis, dass Staub nicht bloß Staub ist, sondern jenes ideelle Gut darstellt, das die Existenz aller Gegenstände erst beweist. Eine weitere hausinterne Instruktion lautet: „Wenn ich schlafe, wache ich, wenn ich wache, schlafe ich.“ Grünmandl führt über erzählerische Sackgassen und ironische Irrwege in ein Universum, das sich – horribile dictu – allmählich der Unendlichkeit annähert. Anders sind die „Grabkammer der Sprichwörter“, die so genannte „chinesische Kammer“, in der die „Herstellung der Prädestination durch postdestinative Fixation“ erfolgt, oder die „Geheime Kanzlei“, von der man überhaupt nichts weiß, gar nicht zu verstehen. Dabei wird ein metaphysisches Strohfeuer aus Wörtern entfacht, dem zwar der erzählerische Ernst jener Bibliothek von Babel fehlt, die einst Jorge Luis Borges beschrieb, dem zu entkommen aber längst unmöglich ist. Sprachverlust und Stammeln, das auch auf den Erzähler übergeht, stehen am Ende: „Ein leeres Aufzählen zeitzerfressener Relikte – heute tot und morgen rot war nicht immer schon grünes Licht schwarzer Mohn und einmal ist keinmal und keinmal ist einmal – Reimgeklimper, verstümmelte Sätze, sinnloses Aneinanderreihen von Silben und Buchstaben.“ Grünmandl legt die Grenze der Sprache, die üblicherweise als Grenze der Welt verstanden wird, massiver und handgreiflicher fest: die Menschheit – „Von Sprichwörtern Eingemauerte.“ Wie in Pizarrini erfolgt auch in Das Ministerium für Sprichwörter der Showdown als Explosion. Otto Grünmandl wäre nicht der erste Satiriker, der im Umgang mit der Widersetzlichkeit der Welt zu einem einschlägigen Gegenmittel greift – Destruktivität. Und das Chaos sei willkommen, denn die Ordnung hat versagt, soll schon Karl Kraus gesagt haben.

      Eine durchtriebene Form des reflexiven Schreibens als Grundbestand der Moderne zelebriert Grünmandl auch in seinem scheinbar leichtesten und heitersten Buch Es leuchtet die Ferne … (1985). Mag bei Gebildeten unter den Lesern jegliche Gleichsetzung von Autor und Erzählung tabu, ja, geradezu verpönt sein und als Ausdruck von Banausentum gelten – wie alle früheren Protagonisten erinnert auch der Kaufmann Franz Krambacher, Verfasser des satirischen Reiseberichts (so der Untertitel des Buches), an Grünmandl selbst. Genauer gesagt – der Erzähler spielt unter Pseudonym das Spiegelbild des Kabarettisten „Grünmandl“. Krambacher geht nach langgehegtem und immer wieder aufgeschobenem Plan mit Fridolin, Großneffe der Hofratswitwe Frieda und zugleich Patenkind von deren Ehemann Enoch Achter, auf Reisen nach Südostasien. Schon im oberen Inntal bei Landeck fühlt er sich bemüßigt, besagter Witwe und Erbtante, die überdies Kennerin antiker Möbel ist, brieflich Bericht darüber zu erstatten, wie es in der Welt so aussieht. Im Anblick der Landschaft wird über die Doppelbedeutung des Wortes „Ekel“ bramarbasiert, der Bericht über Verwandtschaftsverhältnisse und Familienverhältnisse der beiden Reisenden verdichtet sich zu doderesker Unüberschaubarkeit; ein Schützenverein bekommt sein Fett ab, ein Fußballclub wird gelobt und unverhofft setzt eine Tirade gegen den Wiener Opernball ein: Erholt vom Schock zweier Weltkriege habe sich dieser als „beschwingter Staub aus verkohlten Trümmern“ zu einem „von Protzentum und äffischem Zeremoniell heiter durchwirkten Champagnerzeltfest der mitteleuropäischen Hochbonzokratie“ erhoben. Bösem Scherz und Satire folgt sogleich noch tiefere Bedeutung derart abrupter Zeitsprünge auf dem Fuß: Krambacher, der frühe Globalisierungstourist, bleibt auf seinem Weg nach Singapur und Hongkong mit seinen Betrachtungen zum Aussehen arabischer Ziffern, der Verkostung von Krokodilfleisch und der Erinnerung an Krainerwürste sowie familiäre Intrigen seiner Heimat nicht nur brieflich verbunden. Mit zunehmender Entfernung verstrickt er sich immer tiefer in seine Familiengeschichte – Enoch Achter war seinerzeit nach Dachau verbracht worden. Der Schrecken der Erinnerung ist plötzlich so neu, als wäre es gestern gewesen. Die Vergangenheit, die nicht vergehen will, taucht in allen Romanen Otto Grünmandls vielfach rudimentär und mehr oder weniger verschlüsselt auf – hier wird der düstere Schatten der Nazizeit schließlich mit den Mitteln der Tragikomödie, wie es einst von Charly Chaplin im Großen Diktator oder in Jakobowsky und der Oberst vorgeführt wurde, gebannt. In siebenundzwanzigtausend Fuß über dem Indischen Ozean wird nicht nur geschnapst (inklusive Anmerkung für bundesdeutsche Leser: „*Schnapsen oder 66: in Österreich beliebtes Kartenspiel“), der Erzähler findet auch zur ultimativen Formulierung über Österreichs „Anschluss“ an das Dritte Reich im Jahre 1938, das für den jungen Otto Grünmandl so schicksalhaft gewesen war: „Das Land feierte seinen Untergang.“ Im Hintergrund jedes Karnevals aber lauern Mord und Totschlag. In stratosphärischer Leichtigkeit und mithilfe von sechs Brandys schließt sich zuletzt der Kreis von Leben und Werk zu einem „sensationellen Tatbestand“ des ganzen Lebens: „Ich war doch jetzt eben auf dem Klo gewesen, 27000 feet über dem Indischen Ozean. Hätte ich mir das jemals träumen lassen, als ich damals im Geographieunterricht zum erstenmal von der Existenz des Indischen Ozeans erfuhr?“