Название | Das Ministerium für Sprichwörter |
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Автор произведения | Otto Grünmandl |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783709939321 |
Erich Klein
Pizarrini
1. Kapitel
Manchmal, wenn das Geschäft ganz voll war und die Frauen sich an den langen Ladentisch drängten, die Frauen mit den großen, schweren, von Brot und Gemüse überquellenden Einkaufstaschen, und manche mit ihren leeren Netzen und manche nur mit einem kleinen, ledernen Handtäschchen, ein, zwei mit knallroten Lippen, schwarzumrandeten Fingernägeln, frechen Stimmen, und andere schwer und geduldig, und die meisten gehetzt und getrieben zu schnellem Tun, und alle sich an den Ladentisch drängten, an das lange, hellbraune, hölzerne Pult, einen Verkäufer zu kapern, einen Kommis, der sie bedient, der ihnen forthilft, der sie anhört, der ihnen die Ware gibt für ihr Geld. Bunte Ware für ihr graues Geld. Und das lange, hellbraune, hölzerne Pult vollgehäuft war: da mit bunten Schürzendrucken, blauen, roten, dort mit braunen, schwarzen, grauen Wollstoffen und Wäsche, drei, vier Schachteln Unterhosen übereinandergestellt, und einer zeigt Strümpfe, feine, seidene, durchsichtige Strümpfe, und fährt mit gespreizten Fingern durch vollfassonnierte Waden.
Und alle ihre Gesichter zu den Verkäufern auf der anderen Seite des Pults recken, ihre roten, blassen, abgehärmten, frischen, gleichgültigen, zweifelnden, vertrauensvollen Gesichter, und manche riechen angenehm, und andere wieder stinken vom Mund. Und die Stimmen der Verkäufer – eindringlich, beschwörend, kalt, leichthin oder auch nur mit stummen beredten Händen die Waren anpreisend – sich mit den ihren vermischen, und die Luft in dem langen, schmalen Schlauch von einem Geschäft voll und verbraucht war von Reden, Husten, Kichern, Schnaufen, Schreien, Feilschen, Lachen, bösem Gezänk oder gutmütigem Geplänkel.
Manchmal passierte es dann, daß inmitten dieses Gedränges, inmitten dieses Wirrwarrs ausgestreckter, gebender und begehrender Hände, die Tür aufging und ein bleicher, fetter, junger Mann hereinkam, flüchtig-verlegen nach allen Seiten grüßte und mit großen Schritten auf den fahlroten, verwaschenen Samtvorhang zustrebte, der den Laden nach hinten abschloß, ihn zur Seite schlug und dahinter verschwand. Dies ging jedoch immer so schnell vor sich, daß es niemals mehr als nur zwei oder drei Kunden bemerkten. Das allerdings waren dann meistens solche, die noch nicht bedient wurden. Wenn diese dann fragenden Blicks die Verkäufer anschauten oder den an der Kasse thronenden Chef, fragend, warum da ein offensichtlich zum Geschäft Gehöriger – das konnte man leicht an der ganzen Art seines Auftretens feststellen –, warum da also ein solcher eben an ihnen vorbeigegangen war, ohne sie nach ihren Wünschen zu fragen, worauf sie als Kunden wohl rechtens Anspruch hatten, dann wurde ihr Frageblick stereotyp mit dem knappen Satz beantwortet: „Herr Pizarrini macht die Buchhaltung.“
Pizarrini, der bleiche, fette, junge Mann, war immer schon hinter dem Vorhang verschwunden, wenn der Chef oder einer der Verkäufer den aufsteigenden Unwillen der fragenden Kunden mit dieser simplen Erklärung besänftigte. Er hörte es durch den Vorhang hindurch, wie er ja alles durchhörte, hatte aber noch nie beobachten können, wie schnell diese lächerlichen paar Worte alle befriedigten. Sie nickten gewöhnlich ernst mit den Köpfen und blickten mit verhohlenem Respekt auf den schäbigen Vorhang hin, hinter dem sich ein Teil jener geheimnisvollen Maschinerie bewegte, deren seltsamen, nicht ergründbaren Wesenszügen und Gesetzen sie sich ausgeliefert fühlten, seit sie dem Schulalter entwachsen waren. Pizarrini erwiderte, sooft er diesen im Ton einer Generalabsolution gesprochenen Satz hörte, regelmäßig mit einem leisen, gehässigen „Bäh“. Dann – er hörte ihn immer, bevor er sich noch niedergesetzt hatte – ließ er sich auf dem altmodischen Drehstuhl an seinem Schreibtisch nieder und begann zu arbeiten.
Ab und zu blickte er von der Arbeit auf und sah auf den Vorhang hin, durch den von draußen der vielgestaltige Lärm aus dem Verkaufslokal in sein kleines, weißgetünchtes Büro klang.
Der Lärm störte ihn weiter nicht, und auf den Vorhang sah er eigentlich nur deshalb hin, weil er ihm gerade vor seiner kleinen, spitzen Nase hing.
Dieser Vorhang übrigens hatte seine eigene Geschichte. Der Chef erstand ihn, alt und schäbig, bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung der „Städtischen Bühnen“. Man lasse sich nicht täuschen. Die „Städtischen Bühnen“ bestanden schon damals nur mehr aus einem Theatersaal, der die meiste Zeit unbenützt blieb und nur einige Male im Jahr an reisende Truppen vermietet wurde. Da diese reisenden Truppen immer nur artistische Darbietungen brachten, entschloß man sich, den solcherart nicht mehr benötigten Bühnenvorhang zu versteigern. Zum Wohle der Stadtarmen, versteht sich, nach Deckung der Unkosten, versteht sich. Der Chef bekam den Vorhang zum Nennpreis, es hatte sich für dieses schwerhandliche Ungetüm, wie leicht vorauszusehen war, auch nicht ein Steigerer gefunden. Er ließ ihn chemisch reinigen, und da er für seine Zwecke viel zu groß war, vierteilte er ihn. Von den so entstandenen vier Vorhängen behielt er einen für sich, zu dem bereits bekannten Zweck, das Büro vom Verkaufsraum abzuschließen. Den zweiten gab er in einem Anfall von Großzügigkeit der Pfarrgemeinde, der er schon seit längerer Zeit seinen Pflichtbeitrag schuldete. Der Pfarrer bestimmte den Vorhang nach kurzer Beratung mit den engeren Mitgliedern des erweiterten Kirchenausschusses als Sakristeivorhang. Den dritten verkaufte er einem Kaffeehaus, wo er vor den Eingang zum Spielzimmer gehängt wurde. Den vierten und letzten schließlich bekam der Leichenbestatter eines Nachbardorfes, der bei Begräbnissen erster Klasse die Särge damit drapierte.
Dies alles war Pizarrini genauestens bekannt, denn der Vorhang wurde als Geschäftsfall behandelt und als solcher mit allem Drum und Dran vom chemischen Reinigen bis zum Einsäumen der Teilvorhänge und deren Weiterveräußerung genauestens gebucht.
Dies alles hätte ihn jedoch noch keineswegs zu jenen Betrachtungen verleiten können, als deren in die Tat umgesetzte Konsequenz das am Ende dieses Kapitels berichtete Abenteuer zu verstehen ist, wäre nicht hinzugekommen, daß er als nächste Buchung die sehr verspätete Zahlung jenes ländlichen Leichenbestatters vorzunehmen gehabt hätte, der den letzten Teil des Vorhangs erstanden hatte. So aber blickte Pizarrini mit kritischem Buchhalterauge von der Kopie der dem Leichenbestatter ausgestellten Quittung langsam auf und richtete seinen Blick erneut auf den verwaschenen Stoff hin; damit nahmen die Betrachtungen und im weiteren auch die Dinge ihren Lauf.
Daß dieser Mann, der Leichenbestatter nämlich, der doch bestimmt ein sehr sicheres, umsatzmäßig leicht voraussehbares Geschäft betrieb, daß ausgerechnet der sich erst nach einer dritten, zwar korrekten, aber doch sehr scharf gehaltenen Mahnung herbeiließ, die längst fällige Schuld zu begleichen, das ärgerte Pizarrini, ja erbitterte ihn geradezu. Und er, weiß der Himmel, er hätte dem Mann die höchsten Verzugszinsen gerechnet, die gesetzlich noch überhaupt möglich gewesen wären.
Aber der Chef hatte dazu „nein“ gesagt mit der lächerlichen Begründung, einem Leichenbestatter rechnet man keine Verzugszinsen. Blödsinniger Aberglaube, wem denn sonst, wenn nicht einem Leichenbestatter? Immerhin, der Vorhang, das heißt jener Teil, der bei dem Leichenbestatter gelandet war, machte sich gut. Er hatte es selbst gesehen. Bei einem der ersten vergeblichen Inkassoversuche hatte er es gesehen.
„Sie werden es nicht glauben“, hatte er damals zu seinem Chef gesagt, „wie düster und feierlich das aussah. Der bläßlichrote, irgendwie schon jenseitig schimmernde, auf den nackten Steinboden gebreitete Samt und darauf nichts als ein einsamer schwarzer Sarg. Ob Sie es glauben oder nicht, das hat mich gepackt.“
„Ich glaube es Ihnen“, hatte der Chef geantwortet und anerkennend hinzugefügt, „aber sehen Sie, Pizarrini, so etwas, das merkt eben nicht jeder. Dafür muß man ein Gefühl haben, eine gewisse humanistische Bildung. Die haben Sie, die habe ich, aber jeder hat sie nicht.“ Und genau das mußte er auch jetzt denken: Das merkt eben nicht jeder, und jeder denkt auch nicht über einen alten, ausgedienten und doch noch weiterverwendeten Bühnenvorhang nach, so wie er dies jetzt tat.
Ach, Theater, dachte er, Theater, und biß, wie jeden Tag Punkt zehn Uhr vormittags, in eine Käsesemmel. Es gehörte zu seiner Tagesordnung, um zehn Uhr vormittags eine Käsesemmel zu verzehren.
Theater, dachte er geringschätzig, davon scheint dieser Vorhang nicht loszukommen. Theater ist auch,