Das Ministerium für Sprichwörter. Otto Grünmandl

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Название Das Ministerium für Sprichwörter
Автор произведения Otto Grünmandl
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783709939321



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235,– an Moden AG, Moden AG SOLL, Bank HABEN.

      Somit war klar, was er zu tun hatte. Er würde abends nach Geschäftsschluß noch einmal hingehen und sich fünf Kronen, die er zuviel bezahlt hatte, wiederholen. Kronen 534,– an Hillmann & Co., Hillmann SOLL, Bank HABEN.

      So fest Pizarrinis Entschluß auch gewesen sein mag, die fünf Kronen, die er zuviel bezahlt hatte, sich nach Geschäftsschluß wieder zu holen; je näher er dem verrufenen Haus kam, um so unsicherer wurde er. Und als er nun in der Abenddämmerung dieses winterlichen Tages in die schmutzige und armselig beleuchtete Vorstadtgasse einbog, in der es lag, da wußte er plötzlich, daß er nicht hineingehen würde, daß er vorbeigehen würde.

      „Warum eigentlich nicht?“ murmelte er vor sich hin. Aber seine Füße gingen auf die blassen Für und Wider gar nicht ein, die er in seinem Hirn wie Schachfiguren hin und her schob und einander auffressen ließ. Sie trugen ihn im Eilschritt an dem grün und gelb bemalten Haus vorbei, vor dessen gähnend offenem Tor nun auch noch ein schäbig uniformierter Portier stand, der ihm irgend etwas nachrief, auch ein gellendes Lachen glaubte er zu hören und ein hämisches Kichern, das in einem der düsteren, grauen Mauerwinkel dieser Gasse verklang, und er hätte schwören können, daß beides ihm gegolten habe.

      Da hatte er es. So einfach, wie er sich das an seinem Schreibtisch zwischen ein paar Seiten SOLL und ein paar Seiten HABEN vorgestellt hatte, so einfach war es nicht, jene irritierende Fehlspekulation wettzumachen. Und wie zum Hohn seiner selbst empfand er sein Vorbeiflüchten als Bestätigung dafür, daß er sie tatsächlich wettgemacht hätte, hätte er den Mut und die Kraft aufgebracht, hineinzugehen und sich die fünf Kronen zu holen.

      Das bringe ich nicht zustande, stellte er ernüchtert bei sich fest und beschloß als Ausgleich zu tun, was er bisher noch nie getan hatte, beschloß: sich zu besaufen. Beschloß es in einem Zustand klarer, trostloser, niederdrückender Nüchternheit.

      Er griff an die Brusttasche seines Rockes und nickte befriedigt. Seine Brieftasche war bei ihm. Er brauchte sie nicht herauszuziehen, um nachzusehen, wieviel Geld er darin hatte. Er wäre ein schlechter Buchhalter gewesen, hätte er das nicht auch so gewußt. Er trug viel mehr Geld bei sich als gewöhnlich, der Teufel mochte wissen, warum, er trug sein halbes Monatsgehalt bei sich, fünfhundert Kronen. Er wäre ein schlechter Buchhalter gewesen, hätte er nicht nachgezählt.

      Er war nun schon ein gutes Stück von dem Ort seiner Niederlage weg, befand sich aber noch immer in einem der äußeren Bezirke der Stadt. Sein inneres Gleichgewicht war wieder halbwegs hergestellt, und wie er vordem mit Sicherheit wußte, daß er nicht hineingehen würde, so wußte er nun mit Sicherheit, daß er hineingehen und sich besaufen würde. Er ging geradeaus weiter und beschloß, seinen Entschluß, sich zu besaufen, im nächsten auf der rechten Straßenseite gelegenen Gasthaus auszuführen. Er hatte Glück, daß er das nächste zu seiner Rechten gelegene Gasthaus gewählt hatte und nicht das linker Hand. Das nächste, zu seiner Rechten gelegene Lokal nämlich war der Weiße Hirsch, ein bürgerliches Haus mit soliden Preisen, ihm gegenüber jedoch, auf der linken Straßenseite, lag die als Wurzbude bekannte Olympia-Bar, die ob ihrer horrenden Preise weit über die Grenzen der Stadt hinaus berüchtigt war. Pizarrini kannte beide Häuser, den Weißen Hirschen und die Olympia-Bar, aus den Erzählungen seines Chefs.

      Aber als er vor wenigen hundert Schritten beschlossen hatte, in das nächste rechter Hand gelegene Gasthaus einzukehren, hatte er weder an den Weißen Hirschen noch an die Olympia-Bar, noch an die verschiedenen Preiskategorien der beiden Lokale gedacht. Jetzt freilich dachte er daran, und er lobte sich sein Unterbewußtsein, das ihn, während er willkürlich ein zufälliges zu wählen glaubte, unwillkürlich das rechte wählen ließ. Es ist also doch auch ein Hort der Ordnung, dachte er bei sich, und nicht nur ein schwelendes Chaos verdrängter Triebe.

      „Welche Gewalten streiten doch in mir“, murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin und öffnete die Tür zum Weißen Hirschen.

      Der Weiße Hirsch war ein Gasthaus, in dem hauptsächlich Arbeiter, Angestellte und kleine Geschäftsleute verkehrten. Die große Stube, in der die Schank stand, war dunkel getäfelt. An den Wänden hingen verschiedene Jagdbilder, und über der Tür war ein großer, weißer Hirschkopf befestigt, das Wahrzeichen des Hauses. In einer Ecke stand ein Billard, an dem zwei junge Männer spielten. Sonst war kein Gast da. Links führte eine Tür in ein Extrazimmer, das einem Fußballclub als Vereinslokal diente. Die Tür zu diesem Extrazimmer stand offen, und Pizarrini konnte durch sie gut an die zehn bis fünfzehn Mitglieder des Fußballclubs beobachten, die allem Anschein nach eben eine Sitzung abhielten.

      „Dressenwart!“ rief jetzt einer mit einer besonders kräftigen Stimme von dem Extrazimmer in die große Gaststube hinaus. „Dressenwart, Dressenwart!“ riefen ihm gleich mehrere nach.

      Lachen ertönte und von dem mit der kräftigen Stimme ein ärgerliches „Sitzung ist Sitzung!“

      „Ja!“ rief jetzt einer der beiden Burschen, die Billard spielten, und legte den Queue weg, „ja, ich komme schon.“

      Er ging hinein, der andere folgte ihm.

      „Da ist er ja“, höhnte es von innen, „da ist er ja, da ist ja unser Dressenwart!“

      Und wieder das gleiche dröhnende Lachen wie vorhin und wieder der mit der kräftigen Stimme ernst, ärgerlich: „Türe schließen! Sitzung ist Sitzung.“

      Die Türe wurde geschlossen. Nach einer kurzen Weile kam ein Kellner mit weißer Schürze und Jacke heraus. Er trug ein Tablett mit einer Unmenge leerer Bierflaschen und ließ die Tür wieder offen. Er steuerte mit seiner Last auf die Schank zu und verschwand dahinter. Nach einer kurzen Weile erschien er abermals, diesmal mit einem Tablett voller Flaschen. Jetzt erst sah er Pizarrini, der inzwischen an einem der kleinen, weiß gedeckten Tische Platz genommen hatte.

      „Komme gleich“, nickte er Pizarrini zu und verschwand mit seiner schweren Last in das Extrazimmer hinein. Er war ein zirka fünfzigjähriger Mann mit einer großen Glatze und einem Gesicht, dessen knollige Formen an ein Konglomerat von Kartoffeln denken ließen. „Türe zu! Sitzung ist Sitzung.“ Die Türe wurde geschlossen.

      Nach kurzer Zeit kam der Kellner wieder heraus und ließ sie abermals offen. Er ging zu Pizarrini hin und fragte ihn nach seinen Wünschen. Pizarrini bestellte einen großen Schnaps. Was für einer es denn sein dürfe, fragte das Kartoffelgesicht. Pizarrini gedachte seines Vorhabens und bestellte den schärfsten, den er hatte.

      „Da hätten wir einen siebzigprozentigen Kontiuszowska“, sagte das Kartoffelgesicht mit maliziösem Lächeln.

      „Gut“, sagte Pizarrini, „gut, das ist das Richtige.“ Als der Kellner mit dem Schnaps wiederkam, fragte er Pizarrini, ob er nicht der Buchhalter in dem Geschäft in der Severingasse sei.

      „Ja“, sagte Pizarrini, „das bin ich. Woher kennen Sie mich?“

      Er habe ihn einmal, als er etwas kaufte, dort gesehen, und sein Chef, der öfters hierherkomme, habe gesagt, daß er die Buchhaltung mache.

      „Ja“, sagte Pizarrini, „das sagt er bisweilen.“

      „Guten Abend“, sagte der Kellner und machte eine Verbeugung zur Tür hin, durch die gerade zwei Herren eintraten. Er eilte auf die Neueingetretenen zu, half ihnen aus den Mänteln und bat sie, an irgendeinem der leerstehenden Tische Platz zu nehmen, dann fragte er sie nach ihren Wünschen. Jeder der beiden bestellte eine Flasche Bier. Er brachte ihnen das Bier und verschwand wieder in das Extrazimmer hinein. Pizarrini nahm den Schnaps und stürzte ihn auf einmal hinunter. Zuerst spürte er gar nichts, dann jedoch stieg es plötzlich ganz heiß in ihm auf und trieb ihm das Wasser in die Augen. Er schielte zu den beiden hinüber. Ob sie ihn beobachtet hatten?

      Der eine der beiden schien ein feiner Mann zu sein. Er war dunkelblau gekleidet, mittelgroß, hatte ein mageres, fast etwas arrogant wirkendes Gesicht, das von einer Unmenge Falten und Fältchen durchzogen war. Gleichwohl wirkte es nicht alt. Der andere war klein, dick, rotgesichtig und schlampig gekleidet. Neue Gäste kamen herein. Sie sprachen über einen Film, offenbar