Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Название Ausgänge des Konservatismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534273195



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mit einem neuen Programm zu rekonstruiren.« Die dafür angebotene Programmatik, für die Wageners Famulus Rudolf Meyer das Etikett »social-conservativ« erfunden zu haben beanspruchte111, enthielt in sozialer Hinsicht nicht mehr als die Forderung nach Durchführung einer Enquete zur Lage der arbeitenden Klassen112, doch war selbst dies der konservativen Reichstagsfraktion noch zu viel. In einer Kundgebung am 14. 5. 1872 strich man aus dem von Wagener intonierten Dreiklang ›monarchisch, national, sozial‹ die dritte Note aus der Überschrift und erklärte sich lediglich zur »Monarchisch-nationalen Partei des Reichstags«. Nur in einem Unterpunkt war von staatlicher Fürsorge für jene Einrichtungen und korporativen Bildungen die Rede, welche geeignet seien, »die materielle und geistige Lage des Arbeiterstandes zu sichern und zu fördern«.113 Wie stark gesunken Wageners Einfluß inzwischen in diesem Kreis war, belegt ein nur zehn Tage nach der Kundgebung geschriebener Brief von Rodbertus an Rudolf Meyer:

      »Aber täuschen Sie sich nicht! Ich höre hier oft von den conservativsten Gutsbesitzern auf W. schimpfen und hörte das auch noch in Berlin. Auch hier glaube ich, sind nur Risse verkleistert. Es mischt sich in die Abneigung gegen W. ein widriger Zug ein. Man ist ihm nicht blos gram wegen seines Schulaufsichtsgesetzes, das Zwerggeschlecht wird missgünstig auf seinen Ruhm. Man hört! ›er ist zu groß geworden!‹ – und würde schadenfroh sein wenn er stürzte. Ein ehrlicher Hass ist lange nicht so gefährlich.«114

      Die hier angedeuteten Spannungen verschärften sich schon im folgenden Sommer und Herbst in den Auseinandersetzungen über die Kreisordnungsvorlage der Regierung, die die Aufhebung der patrimonialen Polizei- und Erbschulzengewalt vorsah.115 Während das preußische Abgeordnetenhaus mit seiner Mehrheit aus Freikonservativen, Nationalliberalen und Fortschrittspartei die Vorlage annahm, scheiterte sie im Oktober 1872 im Herrenhaus. Das Gesetz konnte zwar einen Monat später mithilfe eines Pairsschubes verabschiedet werden, doch spaltete sich die konservative Fraktion darüber in eine antigouvernementale ›altkonservative‹ Gruppe, die sich über den Verlust der ständischen Privilegien nicht zu beruhigen vermochte, und eine ›neukonservative‹ Richtung, die den Kurs Bismarcks unterstützte.116 In einem Memorandum an R. Meyer machte Wagener wohl heftig Front gegen die Altkonservativen, doch mußte er schon bald darauf erfahren, daß ihm diese Haltung bei den Neukonservativen kein Entgegenkommen in sozialpolitischen Fragen einbrachte.117

      An den Vorgängen, die bald darauf tatsächlich zu seinem Sturz führten, hatte er dann gleich doppelten Anteil: zum einen, weil er sich allzu leichtsinnig auf ein Gründergeschäft im Zusammenhang mit der Pommerschen Zentralbahn eingelassen hatte; und zum andern, weil er während der Debatte über die Kreisordnung im Herrenhaus »ein längeres, sehr wenig schmeichelhaftes Schreiben über die politische Thätigkeit des Ministers des Inneren, Grafen Eulenburg I., an Bismarck gerichtet« hatte. Möglicherweise in der Absicht, sich damit eines allmählich unbequem werdenden Mitarbeiters zu entledigen, brachte Bismarck dieses Schreiben Eulenburg zur Kenntnis, der im Gegenzug über Mittelsmänner dem liberalen Abgeordneten Eduard Lasker belastendes Material über Wagener zuspielte.118 Der machte es Anfang 1873 öffentlich und nötigte Wagener damit zum Rückzug von seinen Ämtern. In seinen 1884 veröffentlichten Erinnerungen verschwieg er die Rolle Bismarcks, auf dessen Unterstützung er wohl weiterhin hoffte, und schob statt dessen den schwarzen Peter seinen »früheren [!] Parteigenossen« zu, die ihm schon seit längerem hinter seinem Rücken vorgeworfen hätten, nicht mehr mit Entschiedenheit die konservativen Prinzipien zu vertreten. Während des Gründerskandals habe man ihn als Bauernopfer vorgeschoben, um ihm danach aus dem Wege zu gehen, als ob er an einer ansteckenden Krankheit litte.119

      Seiner Loyalitätsverpflichtungen ledig, machte Wagener sich daran, die programmatischen Andeutungen von 1872 zu konkretisieren, galt es doch, zu verhindern, daß »der vielgerühmte Conservativismus zu einem Ausdrucke der Rath- und Hilflosigkeit den Bewegungen der Neuzeit gegenüber zusammenschrumpft«.120 Schon bald nach seinem Rücktritt vom Amt des Vortragenden Rats (Juni 1873) überreichte er Bismarck eine sozialpolitische Denkschrift, die gegenüber seinen früheren Interventionen einen neuen Akzent setzte. War es ihm in den 60er Jahren noch vor allem darum gegangen, einen Keil in die liberale Opposition zu treiben und ihr ihren Anhang im Handwerk und in der Arbeiterschaft abspenstig zu machen, so war der nunmehr leitende Gesichtspunkt: »Um jeden Preis zu verhindern, dass die arbeitende Bevölkerung nicht zu einer grossen, compacten, oppositionellen Masse sich zusammenschliesst«.121

      Mit dieser, durch die doppelte Negation allerdings leicht mißverständlichen Parole rückte erstmals neben der städtischen auch die ländliche Arbeiterschaft in den Blickpunkt, eine Schicht, deren Zahl noch 1882 bei rund 2,7 Millionen lag, immerhin mehr als ein Zehntel der Bevölkerung Preußens.122 Da gerade diese Schicht seit den 40er Jahren den größten Anteil sowohl an der Binnenmigration als auch an der Auswanderung nach Übersee stellte und dadurch die Funktionsfähigkeit der Landwirtschaft bedrohte, sah Wagener unmittelbaren Handlungsbedarf. Gefordert sei, aus ökonomischen wie aus wehrpolitischen Gründen, eine »Vermehrung der kleinen ländlichen Besitzungen«, um der Staatsgewalt »gegenüber der fluctuirenden industriellen Arbeitsbevölkerung in einem sesshaften ländlichen Grundbesitze und Arbeiterstande einen materiellen Rückhalt zu schaffen«.123 Dies könne, wie es in einem weiteren Text heißt, am ehesten durch Maßnahmen geschehen, welche »den ländlichen Arbeitern die Erwerbung eines kleinen Grundeigenthums ermöglichen und thunlichst erleichtern«. Als Mittel dafür komme eine Neuordnung des Hypothekenwesens ebenso in Frage wie die Schaffung gesetzlicher Regeln, die es erlauben würden, »Parcellen von Grundbesitz abzuzweigen vom Zweck der Ansiedelung von ländlichen Arbeitern, ohne dass der agnatische oder creditorische Consens eingeholt werden muss«.124 Auf diese Weise, hieß es bald darauf, könne nicht nur der Arbeitskräftemangel in der ostelbischen Landwirtschaft behoben, sondern zugleich der sozialistischen Agitation der Wind aus den Segeln genommen werden. »Das durchschlagendste und nachhaltigste Mittel gegen die socialistischen Bestrebungen der Nichtbesitzenden ist nach allgemeinem Anerkenntniß, letztere durch angemessene Einrichtungen zu Besitzenden zu machen, ein Satz, der in hervorragender Weise auf die ländlichen Arbeiter seine Anwendung findet.« Werde dabei den Reservisten und Landwehrleuten ein Vorzugsrecht eingeräumt, ergäben sich im Nebeneffekt »grössere Militär-Colonisationen«, die hervorragend geeignet seien, in den östlichen Provinzen den Außenschutz zu übernehmen.125

      Wesentliche Anregungen hierzu dürfte Wagener von Rudolf Meyer erhalten haben, der seinerseits seit 1870 mit Rodbertus in Verbindung stand, einem ehemaligen Wortführer der Linken in der preußischen Nationalversammlung von 1848 und der Zweiten Kammer von 1849, der 1871 die Grundbesitzer zu bewegen versuchte, auf ihren Gütern »freieigenthümliche Hofstellen« einzurichten, »deren Käufer die Verpflichtung übernehmen, davon eine bestimmte Anzahl von Arbeitstagen an ein bestimmtes Gut durch beliebige Dienstboten zu leisten.«126 Darauf wird im nächsten Kapitel näher einzugehen sein. Ebenfalls im Austausch mit Meyer (wenn auch in diesem Punkt nicht mehr in Übereinstimmung mit Rodbertus) mag die Idee Konturen gewonnen haben, den neuen Nationalstaat durch ein umfassendes System der sozialen Sicherung zu fundieren, das die formellen Freiheitsrechte durch eine materiale Gerechtigkeit des Schadensausgleichs einschließlich präventiver und prophylaktischer Maßnahmen ergänzen würde. Anknüpfend an bereits 1870 ventilierte Gedanken empfahl Wagener in seiner Denkschrift vom 17. 1. 1874 die Einrichtung von obligatorischen Kranken- und Versicherungskassen, die »auf kleine, nach Gewerken abgegrenzte Bezirke zu beschränken und nur für gewisse Aushilfszwecke zu centralisiren« seien. Darüber hinaus seien Invaliden- und Altersversorgungskassen einzurichten, welche allerdings »nur in größeren Bezirken lebensfähig und jedenfalls in der Hand der Staatsgewalt zusammenzufassen« seien.127

      Über die Finanzierung dieser Einrichtungen ließ sich der Text nicht näher aus, möglicherweise aus taktischen Gründen, um Bismarck den Leitgedanken in homöopathischen Dosen näherzubringen. Rudolf Meyer dagegen wurde noch im gleichen Jahr deutlicher, wenn er in einem in vielen Formulierungen gleichlautenden Text darauf drang, »daß Arbeiter und Arbeitgeber gleich viel Beitrag zu leisten haben, also ein Arbeitgeber wöchentlich eben so viel, wie alle von ihm in der Woche beschäftigten Arbeiter zusammengenommen.«128 Bismarck dagegen setzte später eher auf ein steuerfinanziertes System, bei dem das Reich »als Hauptkostenträger und als Wohlfahrtsgarant«