Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Название Ausgänge des Konservatismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534273195



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Bürgertum und Bauern), auch wenn es daneben bereits die Existenz neuer Klassen und Gruppen einräumen mußte, die das dreigliedrige Modell aufweichten.65 Als eigentlicher Herrschaftsstand galt dabei der Adel, während das Bürgertum unterprivilegiert war, um von den Bauern zu schweigen.66 Gar keinen Platz in der herkömmlichen Standesordnung hatte dagegen die städtische und die ländliche Arbeiterschaft, weshalb Ernst Ludwig von Gerlach noch 1865 behaupten konnte, ein vierter Stand existiere nicht.67 Einen solchen ins Leben zu rufen, lag aber letztlich auch in Wageners Absicht nicht, erklärte er doch ausdrücklich die Arbeiterfrage zu einer »ganz neue[n] Frage«, deren Behandlung durch »die alten Organe […] nichts weiter sein [würde] als ein komischer Versuch. Man kann leichter mit einem schweren Frachtwagen im Sande Galopp fahren als die Arbeiterfrage lösen mit Männern und Organen, die derselben fremd oder feindlich gegenüberstehen. Man füllt eben nicht ›neuen Most in alte Schläuche‹, und wenn man ein fehlerhaftes System aus den Angeln heben will, so kann dies nur dadurch geschehen, daß man einen festen Punkt außerhalb desselben zu finden weiß.«68

      Der Punkt außerhalb, von dem hier die Rede ist, war indes nicht nur ein Punkt. Er war die Keimzelle eines gänzlich anderen Systems. War in der ständischen Ordnung, in den Worten Max Webers, die soziale Lage der verschiedenen Schichten »durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschätzung der ›Ehre‹ bedingt«, so wich die Lage der Arbeiterschaft hiervon insofern ab, als sie primär ökonomisch bestimmt war, durch die für die Wirtschaftsordnung typische unterschiedliche »Verfügung über sachlichen Besitz«.69 Das Verhältnis von Besitz und Besitzlosigkeit aber ist, wiederum nach Weber, die Basis aller »Klassenlagen«, die dazu tendieren, zugleich »Marktlagen« zu sein – im Fall der Arbeiter wie der Unternehmer: Arbeits- und Gütermarktlagen.70 Das scheint auch Wagener gegen Ende der 60er Jahre deutlich geworden zu sein, sprach er doch seit dieser Zeit von einer »Entwicklung des Staates aus feudalistischen und bürokratischen Elementen zu einer modernen Erwerbsgesellschaft«, deren Teilnehmer sich nach materiellen Interessen gruppierten.71 Entsprechend stünden sich nicht mehr verschiedene Stände gegenüber, sondern »die Interessen der handelstreibenden und industriellen Klassen« auf der einen Seite und die »Interessen des Grundbesitzes und der arbeitenden Klasse« auf der anderen. Deren Beziehungen aber würden anstatt durch Herrschaft durch Markt und Geld bestimmt. Schon das oben zitierte Grundsatzprogramm von 1856 trug dem Rechnung, indem es der konservativen Agrarpolitik die paradoxe Aufgabe zuwies, eine »Feudalisirung des ländlichen Grundvermögens im modernen, der Macht der Geldwirthschaft entsprechenden Sinne« anzustreben.72 Mit den Ansichten Ernst Ludwig von Gerlachs, der die soziale Frage mit den Mitteln des »Lehnsrechts« lösen und die Grundherrschaft wie die Fabrik als »kleine Fürstentümer« nach dem Modell des herkömmlichen Patriarchalismus organisieren wollte73, war unter solchen Voraussetzungen eine Verständigung nicht mehr möglich, und so war es denn auch nur konsequent, wenn beide 1865 ihren Gegensatz in der sozialen Frage endlich auch in der Öffentlichkeit austrugen.74

      Wie unorganisch die von Wagener anvisierte Neubegründung des Konservatismus ungeachtet aller Beschwörungen des ›Organischen‹ war, läßt sich auch am Verhältnis von Politik und Religion demonstrieren. Nachdem Wagener Anfang 1856 im Abgeordnetenhaus mit seinem Antrag auf Abschaffung des Artikels 4 der revidierten preußischen Verfassung von 1850 gescheitert war, suchte er wenigstens die für stratifizierte Ordnungen charakteristische Einheit von Herrschaftsausübung und Religion zu sichern, indem er bei der Beratung der Gemeindeordnung unter Verweis auf die in Artikel 14 festgelegte besondere Bedeutung des Christentums für diejenigen Einrichtungen des Staates, »welche mit der Religionsausübung in Zusammenhang stehen«, eine Modifizierung des Artikels 12 verlangte. Aus diesem Artikel, der die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, die Vereinigung zu Religionsgesellschaften und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsausübung gewährleistete, wollte Wagener, in Wiederaufnahme eines bereits 1852 von einem Posener Abgeordneten gestellten, jedoch abgelehnten Antrags, die Bestimmung gestrichen haben, wonach der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte unabhängig vom religiösen Bekenntnis sei75, mit der Folge, daß damit automatisch alle Nichtchristen – und das hieß rebus sic stantibus vor allem: die Juden – von diesen Rechten ausgeschlossen sein würden: eine Wiederaufnahme und Verschärfung der von Friedrich Julius Stahl vertretenen Lehre vom »christlichen Staat«, die sich in den Beratungen über die Verfassung nicht hatte durchsetzen können, obwohl sie sich im Unterschied zu Wageners Antrag nur auf die staatsbürgerlichen Rechte bezogen hatte.76 Daß der preußische Staat ein christlicher Staat sei, so Wageners Begründung, sei eine Bestimmung, deren Auswirkung bis tief in die bürgerlichen Verhältnisse, etwa in die Begriffe von Person und Eigentum, hineinreiche und nicht weniger bedeute, als daß allen Zielen und Endzwecken des Staates »der christliche Glaube und die christlichen Verheißungen und dessen Gesetzen und Institutionen die christliche Moral zu Grunde liegt«, woraus wiederum zwingend folge, daß er »um deswillen seine Gesetze nur durch Christen machen, auslegen und anwenden lassen darf.«77

      Die Kommission, die im Vorfeld dieses Antrags unter der Leitung Ernst Ludwig von Gerlachs darüber beraten hatte, war vielen der von Wagener vorgebrachten Argumenten gefolgt, hatte sich dann aber aus pragmatischen Gründen für eine abgeschwächte Lösung entschieden, die den Genuß der bürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis unabhängig machte, die »Regulierung der staatsbürgerlichen Rechte der nicht-christlichen Staats-Angehörigen« hingegen der »Spezial-Gesetzgebung« überantwortete, welche man sich entlang der Vorgaben des Gesetzes vom 23. 7. 1847 dachte, das die Juden von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen hatte.78 Selbst diese Version, die recht genau zusammenfaßte, was die Juden zu dieser Zeit und noch auf längere Sicht von der konservativen Partei zu gewärtigen hatten79, kam jedoch aufgrund einer Intervention des mit Wagener seit 1848 verfeindeten Grafen von Schwerin nicht zum Zuge, der den Antrag auf Übergang zur Tagesordnung stellte.80 Obwohl die Konservativen über eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus verfügten, kam die Kammer dem Antrag nach, wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil die Regierung deutlich signalisierte, an der konkurrierenden Gültigkeit der Gesetze neben der Verfassungsurkunde festhalten und »eine zu weit greifende, den christlichen Charakter des Staates verletzende Anwendung des fraglichen Satzes des Artikels 12 nicht Platz greifen lassen« zu wollen.81

      Das Thema war damit freilich für Wagener und seinen Anhang nicht vom Tisch. Ein Jahr später gab er die Schrift eines ungenannt bleibenden Verfassers über Das Judentum und der Staat heraus, die den Juden zwar »die Bürgerschaft mit ihren civilen Rechten« zugestand, ihnen »das auf die religiös-nationale Einheit gegründete Staatsbürgerthum mit seinen politischen Rechten« indessen kategorisch absprach.82 Im März 1859 unternahm sein Parteifreund Moritz von Blanckenburg einen neuerlichen Vorstoß im Abgeordnetenhaus, um den Bestrebungen entgegenzuwirken, die auf eine Anwendung der Artikel 4 und 12 der Verfassung gegen die im Gesetz vom 23. 7. 1847 festgelegten Restriktionen zielten, unter dem Beifall der Brüder Gerlach, die Blanckenburg bescheinigten, er habe »in der Judensache als trefflicher Feldherr gekämpft, den Feind vorgelockt und gezwungen, die Waffen zu strecken.«83 Noch Jahre später erklärte Wagener, er wolle nicht, daß ihm in einem christlichen Staate ein Eid abgenommen werde von Jemandem, »der das Kruzifix als einen Spott und als einen Hohn ansehen muß.« Sehr wohl aber sei das Umgekehrte möglich, »weil die christliche Religion die höhere Form des Judenthums ist«.84

      Seine Interventionen haben Wagener den Vorwurf eingetragen, nicht nur Antisemit, sondern auch Rassist gewesen zu sein und eine Entwicklung eingeleitet zu haben, an deren Ende der Holocaust stand.85 Richtig ist, erstens: Wagener hat als Herausgeber des Staats- und Gesellschafts-Lexikons einen krassen Antisemiten wie Bruno Bauer zum leitenden Redakteur berufen und ihn einen Artikel schreiben lassen, in dem die Juden als auf der Stufe des »Thiergeistes« stehengebliebene »Naturwesen« charakterisiert werden, als »eine fremde und geistlich-feindliche Race«, als »Parasit[en]« und »bodenlose[n] Zigeuner-Aristokratie«, die in Preußen seit Anfang des 19. Jahrhunderts »fast zu einer herrschenden Klasse« geworden sei.86 Richtig ist, zweitens: Wagener hat als Eigentümer der Berliner Revue zahllose Artikel gegen das Judentum zu verantworten, die weit über einen rein religiös begründeten Antijudaismus hinausgehen.87 Ob diese Artikel alle, wie man vermutet hat88, aus der Feder Bruno