Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Название Ausgänge des Konservatismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534273195



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gefördert habe, sei dieses System doch schon in Frankreich selbst gescheitert, weil es sich zu eng mit dem Finanzkapital eingelassen habe.59 Das gleiche Schicksal erlebten gegenwärtig Napoleons Nachahmer, zu denen auch Bismarck zu rechnen sei, der »den Bankiers zu einer Macht in Deutschland« verholfen habe, »der sich jetzt fast Alles und Alle beugen müssen, wenn sie nicht vernichtet werden wollen«60: »Anstatt die Erhaltung der Familien im Besitz und die Ansiedelung der Landarbeiter durch das Rentensystem zu fördern und den Grundbesitz von der Finanzherrschaft frei zu machen«, wie Wagener und Rodbertus ihm geraten hätten, habe Bismarck »das Entstehen von Capitalistenbanken begünstigt, die den Grundbesitzern den Hals abschneiden und – die schliesslich selbst zum grossen Teil pleite gehen werden.«61

      Das berührte sich, auch und gerade in der Identifikation von Bankkapital und Judentum, mit der in Frankreich schon vor 1848 einsetzenden antisemitischen Agitation, die in Deutschland seit den 1860er Jahren ein Echo fand und im Zuge des Gründerkrachs eskalierte.62 Schon in seiner Kritik der »Central-Boden-Credit-Actien-Gesellschaft« scheute sich Meyer nicht, diese als »kosmopolitisch-jüdisch« zu denunzieren und sie damit gleichsam zu expatriieren.63 Die Macht der liberalen Parteien schien ihm dadurch erklärbar zu sein, »daß die Leiter der Presse, die Redacteure, im intimsten Verkehr mit den Führern im Parlament und mit den Capitalisten und Börsenkönigen lebten«, einem Verkehr, der »vornehmlich durch die gemeinsame, canaanitische Abstammung vieler der Vorzüglichsten« jener Parteien erleichtert werde.64 Im zweiten Band des Emanzipationskampfes referierte er über zehn Seiten kommentarlos die Invektiven des Fourieristen Alphonse Toussenel und verkündete im Kapitel über Österreich seine feste Überzeugung, »dass die Juden, beschnittene und unbeschnittene, welche heute thatsächlich in Wien herrschen, hier wie überall die Zersetzung eminent fördern«.65 In Belgien sei ein großer Teil der Industrie in jüdischen Händen, in Frankreich habe nach der Niederlage im Krieg gegen Deutschland eine liberale Clique die Macht ergriffen und eine »Judenwirthschaft« installiert. Selbst beim Sieger müßten Parlament und Regierung längst sich den Juden beugen. Deutschland stehe unter der »Herrschaft einer capitalistischen, semitischen Clique«, der Westen insgesamt sei »durch die goldene Internationale, das Geldjudenthum in den oberen Kreisen, entsittlicht«.66 Ähnliche Vorwürfe wurden zur gleichen Zeit in der Gartenlaube, in der Deutschen Landeszeitung oder der Staatsbürgerzeitung erhoben, unter anderem von Otto Glagau und Ottomar Beta, welch letzterem Meyer auch die Berliner Revue geöffnet hatte.67 Mit Bruno Bauer, der nach Meyers Auskunft während seiner Redaktionsführung die politische Wochenschau des Blattes betreute, war darüber hinaus ein weiterer »Klassiker« des Antisemitismus an Bord.68 Bismarck, so der Tenor, führe Deutschland in den Staatsbankrott, er liefere das Volk einem »System der Aussaugung und Ausraubung […] durch Blutsauger« aus und sei auf dem besten Wege, »das Ende der christlichen Civilisation« einzuleiten.69 Hinsichtlich der Juden gab es deshalb nur eine Lösung: die Rücknahme der Emanzipation.70 Aber damit war es nicht getan:

      »Wir wissen, dass, wenn die Regierung des Landes anderen Händen seit 1871 anvertraut gewesen wäre, wenn einfache schlichte Männer in des Königs Rath gesessen hätten, keine Einzige der entsetzlichen Gründungen, welche den Courszettel der Berliner Börse schänden, existiren würde. Wir wissen, dass der ›Culturkampf‹ die deutsche Nation nicht zerklüften, die Noth nicht in Palästen und Hütten wohnen würde. Solange der Fürst Bismarck das allein mächtige Idol bleibt, wird die deutsche Nation dem Reich, das Reich dem Kanzler geopfert werden, und der Kanzler – gehört den Juden und Gründern. Daher giebt es für unsere Politik nur eine gebundene Marschroute: Beseitigung des jetzigen Systems und seines Trägers.«71

      Den Vorwurf, »plötzlich zum jüdischen St. Simonismus gekommen« zu sein72, wollte Bismarck nicht auf sich sitzen lassen. Er ließ Meyer durch seine Anwälte wegen Beleidigung anklagen und erwirkte im Februar 1877 seine Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe, der sich Meyer durch Flucht in das benachbarte Ausland entzog.73 Ein Versuch Wageners, Bismarck zum Einlenken gegenüber Meyer zu bewegen, scheiterte, und bald darauf brach Bismarck auch die Beziehungen zu Wagener ab.74

      II.

      Mit seiner Flucht vollendete Meyer auch räumlich, was sich in der Sache schon länger angekündigt hatte: eine Distanzierung, wenn nicht vom Konservatismus schlechthin, so doch von dem, wozu dieser in Preußen seit der Neuen Ära geworden war: von den Neukonservativen, die im Kielwasser der Liberalen segelten, und von den Altkonservativen, die der Donquijoterie anhingen, ein patriarchalisches Königtum restaurieren zu wollen, das so unzeitgemäß sei wie das patriarchalische Arbeitgebertum oder das patriarchalische »Consistorialtum«.75 Das nahm, zumindest was die Arbeitsbeziehungen betraf, den Befund vorweg, zu dem zwei Jahrzehnte später auch Max Weber auf empirischem Wege kam.76

      Wenn Meyer dennoch nicht resignierte, so deshalb, weil er bald nach seiner Flucht ein neues Forum fand. Im Frühjahr 1877 bot ihm Karl Freiherr von Vogelsang (1818–1890), spiritus rector der in Wien erscheinenden kleinen »Zeitung für die österreichische Monarchie« mit dem Obertitel Das Vaterland, eine Stellung als fester Mitarbeiter an77, eine Position, die ihm endlich wieder ein festes Einkommen bot und ihn überdies in unmittelbare Nähe zu Lorenz von Stein brachte, dessen Lehre vom sozialen Königtum im Kreis um Wagener höchste Wertschätzung genoß.78 Eine weitere Attraktion bestand darin, daß die Redaktion ihm die Möglichkeit eröffnete, zeitweise als Auslandskorrespondent zu agieren. Für die nächsten Jahre wurde Wien zu einer Art Heimathafen, von dem aus er auf lange Fahrten ging: 1878 für sieben Monate nach Paris, 1879 für neun Monate nach England, 1881 auf ein ganzes Jahr in die Vereinigten Staaten, danach wieder nach England und Frankreich, außerdem nach Italien und Ungarn.79

      Das Vaterland war 1860 von Adelskreisen in Böhmen, Mähren und Österreich in der Absicht gegründet worden, den konservativen Standpunkt auch auf publizistischem Feld zur Geltung zu bringen und dabei »die Besprechung der socialen Frage im großen Styl an erster Stelle auf unsere Tagesordnung zu setzen.«80 Aus lokalen Versammlungen in Prag, Brünn und Wien mit insgesamt rund vierhundert Teilnehmern hatte sich ein Gründungsausschuß konstituiert, der wiederum einen Verwaltungsrat einsetzte, aus dessen Mitte ein Direktorium und ein fünfköpfiger Redaktionsausschuß gewählt wurden. Die Oberleitung lag bis zu seinem Rückzug aus Altersgründen bei Leo Graf Thun (1811–1888), von 1849 bis 1860 Minister für Kultus und Unterricht, außerdem erbliches Mitglied des Herrenhauses und Abgeordneter des böhmischen Landtags81; ab 1887 bei Egbert Graf Belcredi (1816–1894), von 1879 bis 1891 Reichsratsabgeordneter für den mährischen Großgrundbesitz.82 Für die politische Linie des Blattes, das mit seinen höchstens 3000 Abonnenten »immer zwischen Leben und Sterben« lag83, zeichnete seit 1875, in ständiger und nicht selten spannungsreicher Abstimmung mit den Gründern und Geldgebern, der erwähnte Karl Freiherr von Vogelsang verantwortlich, wie Meyer ein Norddeutscher, der 1850 zum Katholizismus konvertiert war.84 Alle drei brachten bis 1882 Meyers Arbeit ein hohes Maß an Wertschätzung entgegen, Belcredi, der als Vorsitzender der Kommission zur Revision der Gewerbeordnung ab 1879 häufig auf Meyers Expertise zurückgriff, auch darüber hinaus.85

      Welch großen Einfluß Meyer auf die in Entstehung begriffene christlich-soziale Bewegung in Österreich ausübte, war den Zeitgenossen durchaus geläufig.86 Sein spezieller Anteil an der Profilbildung des Vaterlands dagegen ist bis heute unerforscht. Beachtung gefunden hat lediglich die Tätigkeit Vogelsangs, dessen wichtigster Biograph Meyer jedoch auf parteiliche Weise beurteilt und überdies unterschätzt, wenn er ihm vorwirft, die Dinge »zu einseitig von der wirtschaftlichen Seite« aufzufassen.87 Zur Unterschätzung mag beigetragen haben, daß die Artikel überwiegend nicht namentlich, sondern allenfalls mit Siglen gekennzeichnet sind. Man muß sehr viel gelesen haben, bis man in der Nr. 92 vom 3. 4. 1881 auf einen redaktionellen Vermerk stößt, wonach die sich durch das ganze Jahr hindurch ziehende, mit der Sigle √ gekennzeichnete Artikelserie »Amerikanische Briefe« ›unserem Mitarbeiter‹ Dr. Rudolf Meyer zukommt. Auch Meyer selbst bestätigt diese Sigle, unter der bis dahin bereits mehrere hundert, oft mehrteilige Artikel erschienen waren.88

      Das Themenspektrum, das Meyer in diesen Jahren