Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Название Ausgänge des Konservatismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534273195



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wahrscheinlich ist.130 Mit detaillierter Kritik hielt sich Wagener, schon aus Gründen der Loyalität gegenüber seinem früheren Dienstherren, zwar zurück, doch ließ er keinen Zweifel an seiner Überzeugung, »dass die bisherige Socialreform, selbst wenn es, mehr als ich glaube, gelingt, dieselbe in das Leben einzuführen, auch nicht entfernt das leisten wird, was man sich in conservativen und Regierungs-Kreisen davon zu versprechen scheint.«131 Dagegen sprach aus seiner Sicht nicht zuletzt ihre Verquickung mit dem Sozialistengesetz, sei es doch »eine vergebliche Hoffnung und ein aussichtsloses Bemühen, die Sympathien der Masse für die Regierung und eine conservative Socialpolitik zu gewinnen, so lange man dabei beharrt, dieselbe als Deutsche zweiter Klasse zu behandeln und unter Ausnahmegesetze zu stellen.«132

      Nach seinem Bruch mit Bismarck zog sich Wagener aus dem politischen Feld zurück, wenn man von seiner Beteiligung an der Gründung einer Social-Conservativen Vereinigung Ende 1880 absieht, die über erste Anfänge jedoch nicht hinausgelangte.133 Publizistisch blieb er immerhin präsent. Neben den eben zitierten Erinnerungen, einer eher als Pflichtübung anmutenden Reminiszenz an Die Politik Friedrich Wilhelm IV. (1883) und einer im Zusammenhang mit der konservativen Bonapartismusdeutung zu besprechenden Arbeit über Napoleon III. sind vor allem zwei 1878 anonym publizierte Schriften erwähnenswert: eine kritische Auseinandersetzung mit Schäffles Quintessenz des Sozialismus und ein Beitrag zur Lösung der sozialen Frage. Widmete sich die erstere der Aufgabe, Schäffles insgesamt zu positive, weil zu eng auf die rein volkswirtschaftlichen Aspekte bezogene Auffassung des Sozialismus um die negativen, auf die Zerstörung von Ehe und Familie, Staat und Religion zielenden Seiten desselben zu ergänzen134, unternahm die letztere den Versuch, dasjenige am Sozialismus zu retten, was sich mit dem Konservatismus vereinbaren ließ. Und das war nach Wageners Darstellung durchaus nicht wenig, ging es doch beiden um eine »Beseitigung des Individualismus durch den Kollektivismus; Ersetzung des Privat-Kapitals durch das Kollektiv-Kapital; Beseitigung der gegenwärtigen anarchischen, nur durch die ›freie Konkurrenz‹ geregelten Produktion durch eine soziale Organisation der National-Arbeit; […] Erhaltung und Wiederherstellung der Verbindung von Kapital und Arbeit und gerechte Vertheilung des gemeinsamen (gesellschaftlichen) Produktes an alle nach dem Maße und dem Werthe ihrer Leistung«. Wie sich dieses Votum für Kollektivismus mit der gleichzeitig vorgetragenen Forderung nach »Erhaltung und resp. Wiederherstellung eines Mittelstandes auf möglichst breiter Basis« vereinbaren ließ135, verriet Wagener allerdings nicht; wie ihm auch der Widerspruch nicht bewußt geworden zu sein scheint, einerseits das Parteiwesen abzulehnen und andererseits die Bildung einer »große[n] und sichere[n] Mittel-Partei« zu fordern, »in welcher die erhaltenden und bewegenden Kräfte wiederum ihre Ausgleichung finden.«136 In die Schlußbetrachtungen dieser Schrift mischt sich ein nicht zu überhörender resignativer Unterton:

      »Das geringe Maß von Hoffnung, welches wir uns noch bewahrt haben, steht deshalb auch allein darauf, den Rath, welcher kürzlich seitens des Reichskanzlers dem Grafen Andrassy für den Kaiser von Oesterreich ertheilt sein soll, auf unsere eigenen Verhältnisse angewandt zu sehen, sodaß man sich auch im deutschen Reiche endlich dazu entschließt, über die alten verbrauchten Fraktionen und Parteien zur Tagesordnung überzugehen und von dem ›Parlamente‹ an ›das Volk‹ zu appeliren.«137

      Im Rückblick wird man sagen müssen, daß Wageners Zeit seit 1866 vorbei war. Seine politische Sozialisation war entscheidend geprägt durch die Konfliktlage von 1848/49, als sich die Konservativen einer an wirtschaftlicher und sozialer Macht stetig zunehmenden liberalen Partei konfrontiert sahen, der gegenüber nur eine Doppelstrategie von Exklusion und Spaltung erfolgversprechend schien. Für diese Strategie fand Wagener 1862 in Bismarck einen Partner, allerdings einen solchen von ungleich größerer taktischer Flexibilität, der in der Lage war, im entscheidenden Moment die Schlachtordnung umzustellen. In dieser neuen Konstellation hatte Wagener keinen Platz mehr, und dies auch nicht nach den Kurskorrekturen, die Bismarck seit den späten 70er Jahren vornahm: der wirtschafts- und zollpolitischen Wende von 1878 und der sozialpolitischen Wende ab 1881. Daß ein wie immer auch bescheidenes System der sozialen Sicherung ausgerechnet von einem Kartell auf den Weg gebracht werden konnte, an dem neben seinen alten Parteigenossen in der Deutschkonservativen Partei auch die Nationalliberalen und die zwischen beiden schwankenden Freikonservativen beteiligt waren, lag zu jeder Zeit jenseits von Wageners Vorstellungskraft. Unter diesem Gesichtspunkt widerfuhr ihm kein allzu großes Unrecht, wenn die nach seinem Tod 1889 unternommenen Versuche, ihn zum Ahnherrn der von der Kaiserlichen Botschaft von 1881 inaugurierten Sozialreform zu erheben, weitgehend ohne Resonanz blieben.138 Daß dieser Gesichtspunkt freilich nicht der einzige sein kann, sollte ebenfalls deutlich geworden sein.

      4.Irrungen, Wirrungen: Rudolf Meyers Weg von der Berliner Revue zur Neuen Zeit

      Für den Konservatismus in Deutschland ist das Jahr 1866 gleich in zweierlei Hinsicht von einschneidender Bedeutung geworden. Am 18. Mai, sechs Wochen vor Königgrätz, kam es zwischen dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck und seinem einstigen Ziehvater Ernst Ludwig von Gerlach, dem bis 1858 unumstrittenen Führer der Konservativen Partei und nach wie vor einflußreichen ›Rundschauer‹ der ›Kreuzzeitung‹, zum endgültigen Bruch, war doch für den großdeutsch orientierten Gerlach »ein von Preußen provozierter Krieg gegen den deutschen Bruderstaat Österreich ein absolutes Horrendum«, sehr im Gegensatz nicht allein zu Bismarck, sondern auch zu vielen anderen Repräsentanten der Konservativen Partei, die Gerlach deshalb nur wenige Tage später für »gesprengt« erklärte.1 Bismarck selbst galt ihm fortan als »Verbrecher«.2

      Knapp vier Monate danach beendete das preußische Abgeordnetenhaus mit der Verabschiedung des Indemnitätsgesetzes den Verfassungskonflikt und ebnete so den Weg für die Verständigung zwischen der Regierung und der liberalen Opposition. 1869 bestätigte Gerlachs langjähriger Briefpartner Heinrich Leo, was Gerlach schon drei Jahre zuvor festgestellt hatte: »daß es mit der conservativen Partei bei uns zu Ende sei«.3 Die ›Kreuzzeitung‹ erklärte es gar für einen Irrtum, »wenn man meint, dass es in Preussen überhaupt eine conservative Partei gebe. In der Wirklichkeit steht vielmehr die Sache so, dass die conservative Partei zersetzt, daher machtlos ist […] die Principien sind verwischt, die Haltung und die Organisation fehlen.«4 Auch wenn sich diese Einschätzung als voreilig erwies, indiziert sie doch eine tiefe Verunsicherung über Wesen, Gehalt und Zukunft des Konservatismus, wie sie kurz zuvor auch das neben der ›Kreuzzeitung‹ wichtigste Organ der preußischen Konservativen, das von Philipp von Nathusius herausgegebene Volksblatt für Stadt und Land, zum Ausdruck gebracht hatte: »Welches sind die positiven Principien, die wir dem Liberalismus entgegenzuwerfen haben? Wo ist der practisch mögliche, lebensfähige und lebenerzeugende Boden, auf den wir kraft der Wahrheit unsere Gegner, unser Volk herüberzuzwingen haben? Wisst ihr Conservativen das?«5

      Zu den wenigen, die eine Antwort auf diese Fragen parat hatten, zählte zu diesem Zeitpunkt einer der engeren Mitarbeiter Wageners, der bereits mehrfach erwähnte Rudolf Meyer. Dieser stilisierte sich später zwar gern als »letzten konservativen Schriftsteller«6, als Endglied einer Kette, die mit Rodbertus begonnen und über Hermann Wagener, Schumacher-Zarchlin und Adolph Wagner bis zum ihm, Rudolf Meyer, geführt habe.7 Zugleich rechnete er sich jedoch zu den »Socialconservativen« und verstand sich als ›Prediger‹ eines »conservativen Socialismus«, bisweilen auch »des Socialismus von Gottes Gnaden«, dem die Zukunft gehören werde.8 Die Wertschätzung, die ihm dabei nicht nur von den genannten Autoren, sondern auch von so ganz anders gearteten Köpfen wie Friedrich Engels und Karl Kautsky entgegengebracht wurde, sollte Grund genug sein, ihm mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als ihm bislang zuteil geworden ist.

      I.

      Rudolf Meyer wurde 1839 in der Neumark als Sohn eines Rittergutspächters geboren.9 Er besuchte verschiedene Schulen in Pommern, zuletzt eine Art Handelsschule in Stettin, deren Abschlußzeugnis die Aufnahme eines Universitätsstudiums ermöglichte.10 An der Berliner Universität belegte er zunächst naturwissenschaftliche Fächer, wandte sich dann aber der Geschichte, der Philosophie und schließlich auch der Nationalökonomie zu, der Disziplin, in der er nach