Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Название Ausgänge des Konservatismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534273195



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allem für die Arbeiter galt. In Kenntnis dieser Prämissen beauftragte Wagener Dühring mit der Abfassung einer Denkschrift über die wirthschaftlichen Associationen und socialen Coalitionen, die für die Arbeiterschaft ein freies Koalitions- und Arbeitsrecht forderte, den Staat zur Regulierung der Arbeitskämpfe in die Pflicht nahm und Ansätze zur Schaffung eines »Arbeiterrechts« entwickelte, »durch das der Staat Einfluß auf die Gestaltung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse« gewinnen sollte.42

      Die Denkschrift erschien noch im gleichen Jahr im Druck, zunächst anonym, in der zweiten Auflage jedoch, zum Erstaunen und zur Erbitterung des Verfassers, unter dem Namen – Hermann Wageners. Der daraufhin ausbrechende Rechtsstreit ist von Dühring ausführlich geschildert worden und kann hier außer Betracht bleiben.43 Interessant ist der Fall vor allem deshalb, weil er zum einen die Bereitschaft Wageners zeigt, sich öffentlich mit der Forderung der Arbeiterschaft nach höheren Löhnen, gewerkschaftlicher Organisation und einer Legalisierung der »wirthschaftlichen Kriegführung gegen die Kapital-Herrschaft« zu identifizieren44, zum andern aber eine Übereinstimmung in der Strategie signalisiert, »auf die allseitige combinatorische Vereinigung antagonistischer Regungen« hinzuarbeiten.45 Denn genau darin waren sich Wagener und Dühring einig: »Die alten Parteien mussten, wenn nicht eine innere Wandlung, dann jedenfalls eine äussere Kreuzung erfahren.«46

      Wenn man dennoch nicht zusammenkam, so dürfte dies von Wageners Seite her daran gelegen haben, daß er damals noch mit dem Gedanken liebäugelte, in den zu gründenden Gewerkvereinen »die beiden Klassen des gewerblichen Betriebes, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, gleichmäßig« zu vereinigen.47 Von Dührings Seite her erwies sich als Hindernis dessen Forderung, den oppressiven Staat zugunsten der aus Wirtschaftsgemeinschaften bestehenden ›freien Gesellschaft‹ zurückzudrängen48, was für Wagener entschieden zu weit ging. Denn so groß seine Vorbehalte gegen eine bürokratisch-absolutistische Gestaltung des Staates und seine Sympathie für eine Selbstregierung und -verwaltung intermediärer Gruppen auch sein mochten: daß ein moderner Staat ohne starke Zentralgewalt nicht vorstellbar war, stand für ihn fest.49 Eine Regierung, hieß es denn auch kategorisch, kann auf die Dauer nicht bestehen, »wenn es nicht eine Körperschaft giebt, wo die Souveränität voll, unbedingt und ungetheilt vertreten ist«.50 Und das war ein Postulat, das Wagener nicht nur von Dühring und vom Korporatismus trennte, sondern ebensosehr vom historischen Konservatismus.

      II.

      Wageners Version des sozialen Königtums, von seinem Adlatus Rudolf Meyer nach 1871 rasch zum »hohenzollernsche[n] Kaiserthum der socialen Reform« aufgewertet51, scheint gleich in doppelter Hinsicht genuin moderner Natur zu sein: zum einen durch seine Neubegründung der Legitimität von bestimmten Funktionen her anstatt vom Gottesgnadentum52; zum andern durch die spezifische Auslegung dieser Funktionen auf materiale Postulate hin, wie sie für den modernen Sozialstaat typisch sind.53 Eine derart eindeutige Positionsbestimmung ist jedoch im Hinblick auf Wagener nicht durchzuhalten. In seinen Äußerungen und Aktivitäten durchkreuzen sich moderne und vormoderne Bestrebungen und gehen bisweilen intrikate Verbindungen ein, die eine genauere Einordnung erschweren. So ist zwar Funktionalität zweifellos ein in der Moderne besonders scharf ausgeprägtes Prinzip, doch läßt sich schwerlich bestreiten, daß sich das Königtum in allen geschichtlichen Erscheinungsformen auch durch die Erfüllung bestimmter Funktionen legitimiert hat, und daß unter diesen Wohlfahrtszwecke jedweder Art eine erhebliche Rolle spielten. Das gilt für das charismatische Königtum der Frühzeit, zu dessen Verpflichtungen es gehörte, das ›Wohlergehen der Beherrschten‹ sicherzustellen.54 Es gilt für das patrimoniale Königtum mit bürokratischer Verwaltung, die in ihrem »Interesse an der Zufriedenheit der Beherrschten« zu einer an utilitarischen oder materialen Idealen orientierten Regulierung der Wirtschaft tendiert, womit stets eine »Durchbrechung ihrer formalen, an Juristenrecht orientierten, Rationalität« verbunden ist.55 Und es gilt schließlich auch noch für das demokratisch legitimierte Königtum, die auf der Volkssouveränität beruhende plebiszitäre Herrschaft, die infolge ihrer »Legitimitätsabhängigkeit von dem Glauben und der Hingabe der Massen« genötigt ist, »materiale Gerechtigkeitspostulate auch wirtschaftlich zu vertreten, also: den formalen Charakter der Justiz und Verwaltung durch eine materiale (›Kadi‹-) Justiz (Revolutionstribunale, Bezugscheinsysteme, alle Arten von rationierter und kontrollierter Produktion und Konsumtion) zu durchbrechen.«56

      Wie sehr bei Wagener moderne und vormoderne Motive ineinander verschlungen waren, zeigen die Initiativen, die er 1856 zur Revision der preußischen Verfassung von 1850 entfaltete. Nach dem Erfolg der Konservativen bei den Wahlen vom Herbst 1855 konstituierte sich im Abgeordnetenhaus eine »Commission für Verfassungs-Angelegenheiten« unter dem Vorsitz Ernst Ludwig von Gerlachs, die einen weiteren Umbau der bereits mehrfach revidierten Verfassung in die Wege leiten sollte. Der radikalste Vorstoß wurde im Januar 1856 von Wagener vorgetragen und noch im März Gegenstand einer erregten Debatte im Abgeordnetenhaus, an der sich auch die Öffentlichkeit beteiligte.57 Er zielte mit Artikel 4 auf eine zentrale Hinterlassenschaft der Revolution, die die Gleichheit aller Preußen vor dem Gesetz statuierte und dies mit zwei weiteren Bestimmungen verknüpfte: der Aufhebung der Standesvorrechte und dem gleichen Zugang aller dazu Befähigten zu den öffentlichen Ämtern. Wageners Antrag lautete auf ersatzlose Streichung dieses Artikels. Die Menschen seien zwar, wie es in Anspielung auf 1. Korinther 15,45 ff. hieß, »geboren in der Gleichheit des ersten, und berufen zur Gleichheit des zweiten Adam«, doch sei in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Ordnung die Gleichheit ersetzt durch die Ungleichheit der Gnadengaben und Ämter. Eine Gleichheit der politischen Rechte sei damit ebenso ausgeschlossen wie eine gesellschaftliche Gleichheit. Vielmehr sei Ungleichheit »authentisch, selbstverständlich und von göttlichem Ursprung, ja mit Blick auf das Entstehen und Funktionieren von Staat und Gesellschaft gar organisch.«58 Niemand, folgerte Wagener, einmal mehr unter ausführlicher Bezugnahme auf Lorenz von Stein, stehe im Staate isoliert da, vielmehr sei »die Person Theil und Glied organischer Anstalten und Verbindungen«, von denen keine aus gleichen Teilen bestehe. Die politischen Rechte, die aus der Zugehörigkeit zu diesen Anstalten erwüchsen, seien nicht minder als Eigentum zu betrachten »als das erworbene Privat-Eigenthum«.59

      Es bedarf keiner weit ausholenden Erläuterungen, um klar zu machen, was hier gemeint ist: die Rückkehr zur stratifikatorischen Differenzierung und damit zu einer Ordnung, in der die Schichtzugehörigkeit multifunktional wirkt und einer Eigengesetzlichkeit verschiedener Handlungssphären schwer zu überwindende Schranken zieht. Das entspricht ganz der oben referierten programmatischen Kundgebung zur konservativen Politik, in der dem »sociale[n] Liberalismus« vorgeworfen wird, »zur Lösung der gesellschaftlichen Bande, zur Atomisirung der Gesellschaft« geführt zu haben, ein Ergebnis, dem das »Recht der Gesellschaft« gegenübergestellt werden müsse, namentlich das »Grundgesetz des organischen Lebens«, wonach »jedes Glied und jedes System des Organismus möglichst vollkommen, d. h. zu selbständiger Lebens- und Bildungsfähigkeit entwickelt sein müsse, um den Gesammt-Organismus zur höchsten Vollkommenheit und Machtfülle zu erheben.«60 Das hieß positiv gewendet: Befestigung der Familie, Befestigung des Grundbesitzes und der darauf basierenden Gemeindeordnungen, »Decentralisation des staatlichen und wirthschaftlichen Lebens, Herstellung örtlicher und provinzieller Selbständigkeit« und nicht zuletzt: Schaffung einer »auf produktiver Arbeit gegründete[n] und sich ausbildende[n] politische[n] Aristokratie«.61 Mochten die alten Stände auch an Kraft und Legitimität eingebüßt haben, so schien es dem Irvingianer Wagener doch im Bereich des Möglichen, eine »ständische Wiedergeburt (!) mit neuen Ständen« anzustreben, die über umfassende Rechte der Selbstverwaltung verfügen würden.62 Zu ihnen sollten neben Adel, Bürgertum und Bauerntum auch der Handwerkerstand sowie der zu Korporationen zusammenzufassende Arbeiterstand gehören, welch letzterer nach dem Vorbild der Stein-Hardenbergschen Reformen zu ›emanzipieren‹ sei.63 »Kein Bruch mit der Vergangenheit im Innern unseres Staates«, hieß es im Programm des von Wagener gegründeten Preußischen Volksvereins, »keine Beseitigung des christlichen Fundaments und der geschichtlich bewährten Elemente unserer Verfassung; […] kein Preisgeben des Handwerkes und des Grundbesitzes an die Irrlehren und Wucherkünste der Zeit.«64

      Schon