Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Название Ausgänge des Konservatismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534273195



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Kalenders ausgerechnet Hermann Goedsche anvertraut, der unter dem Pseudonym »Sir John Retcliffe« seit Mitte der 50er Jahre mit höchst erfolgreichen zeitgeschichtlichen Sensationsromanen hervortrat – Werken, die nicht nur antisemitische Ressentiments und (nach den Maßstäben der Zeit) pornographische Interessen bedienten, sondern darüber hinaus die Blaupause für die »Protokolle der Weisen von Zion« lieferten, bis heute ein zentraler Referenztext für das Phantasma einer jüdischen Weltverschwörung.89

      Das alles war zweifellos Wasser auf die Mühlen des sich seit den 60er Jahren immer aufdringlicher artikulierenden Antisemitismus, und dies nicht nur tropfen-, sondern kübelweise. Nicht leicht zu beantworten ist hingegen die Frage, ob Wagener sich all dies auch subjektiv zu eigen gemacht oder nicht vielmehr nur strategisch eingesetzt hat. Spezifisch rassistische Begründungen seiner Judenfeindschaft lassen sich in dem von ihm als Herausgeber gezeichneten Text von 1857 nicht ausmachen90, es sei denn, man dehnt den Rassismusbegriff in der heute beliebten Weise so weit aus, daß er ein Synonym für ›gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit‹ ist, was dem Begriff jede Unterscheidungskraft nimmt. Selbst dort jedoch, wo das Judentum expressis verbis »nicht allein als Religion und Kirche, sondern ganz vorzüglich als der Ausdruck einer Raceneigenthümlichkeit« thematisiert wird91, ist Rasse deckungsgleich mit »Nationalität«, die wiederum ihren Hauptinhalt durch die Religion erhält. Die Vorstellung, daß zu einem »Volksgeist« auch eine »Volksseele« und ein »Volkskörper« gehören, bleibt im Rahmen der idealistischen Begrifflichkeit des frühen 19. Jahrhunderts und ist deshalb nicht mit dem biologisch begründeten Rassismus zu verwechseln, der erst in der Endphase des Jahrhunderts aufkommt.92

      Mehr scheint dagegen für die Vermutung zu sprechen, Wagener habe im Judentum eine Fusion von Religion und Politik, eine Art Staatskirchentum gesehen, das in Konkurrenz zu dem analog konzipierten christlichen Staat stand. Tatsächlich schreibt der Emanzipationsartikel im Staats- und Gesellschafts-Lexikon dem Judentum den »Charakter einer Staatskirche« zu und lehnt die Emanzipation vor allem deshalb ab, weil ihr kein Staatsvertrag vorausgegangen sei.93 Die Verweigerung gleicher staatsbürgerlicher Rechte für die Juden wäre von hier aus gesehen eine Folgerung aus der Eigenart ständischer Differenzierung, für die Herrschaftsausübung und Religion nicht zu trennen sind.94 Das kommt der Wahrheit zwar näher als moralisierende Anklagen im Stil Sartres, für die der Antisemitismus »von keinem äußeren Faktor herstammen kann«, vielmehr »eine selbstgewählte Haltung der ganzen Persönlichkeit« ausdrückt.95 Doch geht auch diese Deutung noch an einem wichtigen Punkt vorbei. Mit seinem Änderungsvorschlag für Artikel 12 wollte Wagener gewiß die Christlichkeit des preußischen Staates festschreiben, doch zeigen die näheren Ausführungen in Das Judenthum und der Staat, daß ihm dabei eine sehr spezifische Ausprägung dieser Christlichkeit vorschwebte. Denn der christliche Staat sollte zwar wie die jüdische ›Staatskirche‹ auf einer religiösen Grundlage beruhen und deshalb auch »nur Christen als wahrhaft befähigt zur Theilnahme an seinem öffentlichen Leben anerkennen dürfen.«96 Er sollte sich jedoch zugleich von ihr unterscheiden, indem er eine religiös-politisch indifferente Sphäre des bürgerlichen Verkehrs freigab und damit eine Differenzierung »zwischen Bürgern und Staatsbürgern, zwischen civilen und politischen Rechten« ermöglichte.97 In dieser Sphäre seien Juden zu gleichen Rechten zuzulassen wie alle anderen. »Sie sollen leben und wohnen, erwerben und besitzen, handeln und wandeln wie irgend Jemand. Keine Einschränkung soll ihnen mehr das Leben verbittern, ihren Verkehr und ihre Ehre beschädigen.«98 Vom Staatsbürgertum dagegen, in dem sich »die sittlich religiöse und die sittlich nationale Voraussetzung des Staates« erfülle99, seien sie fernzuhalten – ein fernes Echo jener Lutherschen Lehre von den zwei Reichen, deren eines – das »Reich Christi« – eine allein aus der Offenbarung zu verstehende Ordnung der göttlichen Liebe sei, deren anderes – das der Sünde preisgegebene »Reich der Welt« – seine eigenen Gesetze habe, denen sich Christen wie Nichtchristen gleichermaßen zu unterwerfen hätten.100 Wageners Version der Lehre vom christlichen Staat setzte zwar insofern einen anderen Akzent, als sie Staatlich-Politisches auch in das Reich Christi hinüberzog, doch steht die Herauslösung einer religiös indifferenten Sphäre unverkennbar in jener mit dem Protestantismus einsetzenden Reihe fortschreitender Neutralisierungen, in der Carl Schmitt ein zentrales Merkmal des neuzeitlichen Rationalisierungsprozesses ausgemacht hat.101 In bezug auf die Juden dagegen steht sie am Anfang einer Reihe von Strategien der Exklusion, für die die Bezeichnung »radikaler Antisemitismus« angemessen ist.102

      III.

      Um die oft beschworene Meinungsführerschaft Wageners im konservativen Lager war es nach 1866 nicht mehr gut bestellt. Als Mitarbeiter Bismarcks war er den Altkonservativen suspekt, nicht nur dem Kreis um Gerlach, für den die gegen Österreich gerichtete Politik ein Sakrileg war, sondern auch jenem Teil der Partei, der sich am Umgang mit den annektierten Gebieten stieß.103 Seine Parteinahme für die Regierung andererseits war nicht unerheblichen Belastungsproben ausgesetzt, schwenkte deren Leiter doch nach der Beilegung des Verfassungskonflikts im September 1866 auf ein Bündnis mit dem nationalen Flügel des Liberalismus um und desavouierte damit de facto seinen Berater, für den der Liberalismus in all seinen Schattierungen nach wie vor der Hauptfeind war. Ob Bismarck sich für diese Strategie schon im Frühjahr 1866 entschieden hatte, ist nicht klar, doch ist weder auszuschließen, daß er Wagener in der Absicht ins Ministerium berief, mit ihm den einflußreichsten Vertreter einer antiliberalen Politik auf diese Weise kaltzustellen104, noch daß er sich für den Fall des Scheiterns seiner Strategie einen Kurs im Sinne Wageners offenhalten wollte. Wagener seinerseits hielt auch nach dem Eintritt in die Regierung keineswegs mit seinen Überzeugungen hinter dem Berg. Das zeigt sich in den Denkschriften, die er als Vortragender Rat im Staatsministerium und auch noch nach seiner Entlassung für Bismarck verfaßte105; seinen Interventionen im Reichstag des Norddeutschen Bundes; seiner (freilich anonym publizierten) Schrift über Die Zukunfts-Partei von 1870; und seinem zwei Jahre später unternommenen Versuch, die konservative Partei im Sinne der dort entwickelten Maximen umzubauen.

      Auf die Denkschriften und die damit im Zusammenhang stehenden Initiativen Wageners wird noch zurückzukommen sein. Hier hat das Augenmerk seinem erstmals 1869 angekündigten Vorhaben zu gelten, »eine neue konservative Partei […] zu bilden«, stand doch für ihn inzwischen fest, daß sich die alte konservative Partei »in Folge der Ereignisse des Jahres 66 zersetzen mußte« und in der alten Form nicht wiederherstellbar war. Für eine solche Neubildung habe die Regierung bislang zu wenig getan. Sie habe vielmehr durch ihre Handels- und Industriepolitik »den hierin wurzelnden liberalen Parteien einen neuen Aufschwung verliehen, ohne doch dieselben für sich zu gewinnen«. Da sich dies auch in absehbarer Zukunft nicht ändern werde, sei die »Neubildung einer konservativen und Regierungspartei« unerläßlich, die sich der vernachlässigten Interessen des Grundbesitzes und der arbeitenden Klassen anzunehmen habe.106 Die bestehenden konservativen Verbände seien dazu nicht in der Lage. Die Altkonservativen nicht, weil sie nur mehr an Rückzug dächten und politisch abgedankt hätten; die vor kurzem gegründete, in vielem an das Preußische Wochenblatt anknüpfende Freikonservative Partei nicht, weil sie mit ihrer Mutterpartei »nur noch mechanisch durch den Gebrauch von einigen Stichworten verbunden« sei und insbesondere »die sociale Arbeit, welche sonst die Partei auszeichnete, vollständig liegen« lasse.107 Näher besehen habe man es bei ihr mit nichts anderem zu tun als mit »in der Verpuppung zum Geldsack begriffenen grösseren Aristokraten-Raupen«, deren konservatives Wesen sich »auf einen gewissen Instinkt für Ordnung und Autorität« und deren Freiheit sich auf einen »romantischen Wunsch« beschränke.108 Die Abneigung war gegenseitig, wie ein Brief des freikonservativen Reichstagsabgeordneten Carl von Stumm-Halberg belegt: »Übrigens wäre es mir ganz lieb, wenn Wagener bei dieser Gelegenheit beseitigt würde. Denn der Mann spielt auf sozialem Gebiet eine ganz gefährliche Rolle und ist durch seine jetzige Stellung doch sehr einflußreich.«109

      Der Brief stammt aus dem turbulenten Jahr 1872, das in Preußen vom Kulturkampf und von den Auseinandersetzungen um die Kreisordnung und die Schulaufsicht erfüllt war.110 In diesem Jahr unternahm Wagener noch einmal einen Vorstoß, das im Widerstreit zwischen gouvernementalen und antigouvernementalen Tendenzen auseinanderdriftende konservative Lager zu einen. Ausgehend