Ausgänge des Konservatismus. Stefan Breuer

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Название Ausgänge des Konservatismus
Автор произведения Stefan Breuer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534273195



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Ritterschaft und den höheren bürgerlichen Ständen verhalte, im übrigen auch berücksichtige, daß »ihre Abordnung durch die ganze ländliche Bevölkerung, mit der sie zusammenschließt, mit bedingt ist«. Halte sie sich an diese Maximen, sei ihre Führerschaft gerechtfertigt, sei diese doch mitnichten ein traditional überkommenes Privileg, sondern funktional begründet.146 Von einer nach diesen Bauprinzipien gestalteten Landesvertretung zeigte sich Stahl überzeugt, daß sie sich von »einer Macht der Zersetzung in eine Macht der Erhaltung« verwandeln werde, »daß sie wie sonst den revolutionären Fortschritt so den geschichtlichen Zustand vertrete und eine Bürgschaft der Stetigkeit gewähre, daß sie wie sonst der Nebenbuhler der Krone so der treue Wächter der Krone sey, und daß sie hierdurch auch im Lande eine konservative Partei hervorrufe und ihr als Mittelpunkt und Wegweiser diene.«147

      Der hier anvisierte Konservatismus hatte freilich mit dessen historisch überlieferten Gestalten nur noch wenig gemein. Er rechnete bereits mit der Trennung von Staat und Gesellschaft und damit der Dekomposition der societas civilis, unterstellte eine nach den Regeln des Marktes und der Konkurrenz operierende Eigendynamik der Gesellschaft einschließlich der Aristokratie und trug auch sonst dem Prozeß der funktionalen Differenzierung Rechnung, etwa im Verhältnis von Recht und Moral, von Staat und Kirche148, auch wenn Stahl, erschrocken vor der eigenen Kühnheit, wieder zurückruderte und verlangte, die bürgerliche Gesetzgebung mit der kirchlichen in größeren Einklang zu bringen oder die Wechselwirkung des Sozialen und des Politischen zu beachten.149 Stahl mochte sich noch so stark dafür machen, die Elemente, »die auf dem Bande zu der Vergangenheit ruhen« gegen alle diejenigen zu verteidigen, »welche nach einer neuen Zukunft drängen«, er mochte noch so sehr darauf insistieren, den Vorrang des ›hervorragenden Reichtums‹ vor den mittleren und ärmeren Ständen zu sichern.150 Am Ende war, was er als »das konservative Princip« offerierte, nicht sehr viel mehr als »eine gewisse Vorliebe für das Bestehende und ein Streben nach langsamerem Gange der Veränderung.«151 Und da dieses Bestehende seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend durch die moderne bürgerliche Gesellschaft und ihren Staat bestimmt war, spricht dies für Deutungen, die in Stahl eher den »Totengräber« des Konservatismus sehen als dessen »Chefideologen«.152 Aber das war eine Einsicht, der sich nicht bloß zu Stahls Zeiten die Akteure gern verschlossen, so daß dieses Buch hier noch nicht zu Ende sein kann.

      3.Einstürzende Neubauten: Hermann Wageners Revision des Konservatismus

      In einem noch heute lesenswerten Überblick über Geschichte und Programmatik der konservativen Partei in Deutschland aus dem Jahr 1908 konstatiert der Verfasser, Oscar Stillich: »Das geistige Heldenzeitalter der Konservativen, in der Stahl, Gerlach und Wagener die Parteiforderungen wissenschaftlich vertieften, ist vorüber, und die neue Zeit findet ein kleines Geschlecht.«1 Ersetzt man das sicher zu hoch gegriffene Wort »wissenschaftlich« durch »intellektuell«, wird man dieser Einschätzung beipflichten müssen. Was um 1900 noch unter Konservatismus lief, zeichnet sich gerade durch einen ausgeprägten Antiintellektualismus aus2, mit der Folge, daß es schwer fällt, für diese Periode auch nur einen einzigen Namen zu nennen, der es mit den oben Genannten an geistiger Spannweite und Prägnanz aufnehmen könnte. Gleichzeitig läßt sich aber auch nicht übersehen, daß schon für das »Heldenzeitalter« erhebliche Brüche und Inkompatibilitäten zu verzeichnen sind. Arbeitete Ernst Ludwig von Gerlach auf die Wiederherstellung der societas civilis hin, um damit zunehmend ins Abseits zu geraten, setzte Friedrich Julius Stahl auf einen Reformkonservatismus, der den politischen und sozialen Veränderungen nicht bloß negativ gegenüberstand, jedoch mehr Gepäck über Bord warf, als man im Kreis der Doktrinäre hinzunehmen bereit war. Mit Hermann Wagener ist sogar noch eine dritte Strömung benannt, durch die der Konservatismus vollends zu einem heterogenen Phänomen wurde. Anfangs ein Protégé Gerlachs, trat Wagener zunehmend aus dessen Schatten, um sich bald darauf zum »bedeutendsten Protagonisten einer konservativen Sozialpolitik im 19. Jahrhundert« zu entwickeln.3 Dem Konservatismus ist das zwar nicht zugutegekommen. Wohl aber der Erschließung eines neuen Politikfeldes: der Sozialpolitik.

      I.

      Hermann Wagener, geboren am 8. 3. 1815 in einer kleinen Gemeinde der Ostprignitz, war eine Gestalt, die sich durch ihren sozialen Status, durch ihre religiöse Orientierung sowie durch eine Reihe ungewöhnlicher persönlicher Eigenschaften von den meisten übrigen Repräsentanten des preußischen Konservatismus unterschied.4 Als Sohn eines Pfarrers war Wagener bürgerlicher Herkunft. Erst nach seinem Ausscheiden aus der ›Kreuzzeitung‹ erhielt er von seiner Partei als Abschiedsgeschenk das Gut Dummerfitz im Kreis Neustettin und rückte damit, wenn auch nicht in den Adel, so doch in den Kreis der ländlichen Elite auf. Daß er von Landwirtschaft nicht viel verstand und auf diesem Feld daher wenig reüssierte, unterschied ihn nicht von vielen anderen Gutsbesitzern, wohl aber sein Engagement in der Sekte der Irvingianer, in der er die Stelle eines Diakons einnahm und sogar Predigten hielt.5 Die Weltanschauung dieser von Edward Irving (1792–1834), einem Mitglied der Schottisch-Presbyterianischen Kirche, geprägten Richtung war, nach dem Urteil von Schoeps, »dualistisch-pessimistisch und einem schroffen Chiliasmus verschrieben«, demzufolge die Gegenwart seit der Französischen Revolution als von gottesleugnerischer Verwirrung bestimmte Endzeit galt.6 Denkbar, obschon nicht beweisbar, daß in dieser apokalyptischen Weltsicht die von Theodor Fontane bemerkte Bereitschaft zum Hasardieren, aber auch eine gewisse Bedenkenlosigkeit hinsichtlich der zu verwendenden Mittel wurzelte, die für Wagener typisch wurde.7

      Nach dem Studium der Rechtswissenschaften war Wagener einige Jahre in Westpreußen tätig, bis ihn Ernst Ludwig von Gerlach als Assessor nach Magdeburg und bald darauf an die ›Kreuzzeitung‹ holte. Seine durch zahlreiche Beleidigungsprozesse und Verurteilungen geprägte Karriere als Chefredakteur endete 1854, doch blieb er dem Blatt noch bis 1872 als Autor verbunden. 1857 begann er mit den Arbeiten zu einem bis 1867 auf 23 Bände anwachsenden Staats- und Gesellschafts-Lexikon, einer wahren »Enzyklopädie des Konservatismus« (Stillich), die explizit als Pendant zu dem seit 1834 erscheinenden Staatslexikon von Rotteck und Welcker gedacht war.8 1861 erwarb er die seit 1855 bestehende Berliner Revue, eine »social-politische Wochenschrift«, die es bis zu ihrer Einstellung Ende 1873 auf 75 starke Quartalsbände brachte.9 Schon zwei Jahre zuvor hatte sie sich für »die Emanzipation und Befreiung der Hintersassen des Industrialismus und der Plutokratie« ausgesprochen und »das Protektorat über die zahlreichen Vereinigungen und Korporationen« verlangt, in denen »die wirklich arbeitenden Klassen, unter denen die Aristokratie obenan steht, ihre soziale Selbständigkeit und politische Bedeutung suchen.«10 Im gleichen Jahr erschien mit der Preußischen Volkszeitung ein weiteres Blatt, das sich für Wageners Programm einer »Verteidigung des Handwerker- und Bauernstandes« stark machte.11

      Der volle Umfang von Wageners Einfluß wird jedoch erst deutlich, wenn man sich neben diesen Aktivitäten im Feld der Publizistik auch seine politische Karriere vergegenwärtigt. 1853 wurde er mit Hilfe seines Freundes Kleist-Retzow vom Wahlkreis Belgard-Neustettin ins preußische Abgeordnetenhaus gewählt, wo er, mit zeitweiliger Unterbrechung, bis 1870 tätig war. In den ersten Jahren trat er dort nicht nur mit verschiedenen Interventionen zur Änderung der in wesentlichen Zügen durchaus liberalen Verfassung hervor, auf die im nächsten Abschnitt näher einzugehen sein wird. Er unternahm zugleich verschiedene Anläufe, um »die große Schwäche der conservativen Partei«, den »Mangel eines positiven Programms«, zu kompensieren.12 1856 verfaßte er gemeinsam mit dem Gründer der Berliner Revue, Freiherrn von Hertefeld, sowie dem Rittergutsbesitzer, westpreußischen Landrat und Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses, Moritz von Lavergne-Peguilhen13, die Grundzüge der conservativen Politik, die sich im ersten, von Wagener verfaßten Teil mit beträchtlichem rhetorischen Aufwand gegen den »Constitutionalismus« wandten, hinter dessen Schleier sich »die gewaltigen geistigen Mächte des Bösen« befänden, um es dann aber bei einer Verschiebung der Balance in Richtung des Königtums belassen, ohne an der Grundentscheidung für das System des monarchischen Konstitutionalismus zu rütteln.14 Die Forderung nach »Hebung der bis dahin gesellschaftlich und staatlich unterworfenen Klassen« wurde nur pauschal erhoben und nicht weiter konkretisiert,