Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Название Die Weltzeituhr
Автор произведения Eberhard Hilscher
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954629589



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viel zu niedrig sein sollte, fasziniert es mich, von Welten zu hören, die etwa ein Siebentel der Lichtgeschwindigkeit erreichen. Falls Ihnen ein noch tieferer Vorstoß in die vierte Dimension und den siderischen Raum gelänge, müssten die Nebel dann nicht irgendwann und irgendwo so schnell fliegen wie das Licht selbst? Freilich erhielten wir von dort keine Signale mehr. Und nun stellen Sie sich vor, wie Sonnensysteme gleich Feuerwerkskörpern vom Pariser Arc de Triomphe nach allen Seiten auseinanderflitzen, sich beschleunigen und am Ende in die Unendlichkeit schweben.“

      „Ich bin kein Theoretiker“, bemerkte der Astronom leise. „Doch würde ein derartiger Exodus nicht zur Verarmung der Materie im Endlichen führen?“

      Da schaute ihn die Zelebrität mit schalkhaft blitzenden, großen Augen an und entgegnete: „Und wenn es eine Wiederkunft gäbe? Vielleicht vermag zerstrahlte Energie zu kondensieren und aus der Unsichtbarkeit des Nichts ins Sein zurückzufinden. Oh, Einheit der Vielheit! Möglicherweise sind alle universellen Vorgänge nur Veränderungen im Aufbau und Kombinationsrhythmus des Ur-Feldes, in welchem sich die Universalität elektromagnetischer und gravitierender Kräfte offenbart. Deshalb müsste eine logische, symmetrische und ästhetische Weltformel denkbar sein, die für den Mikrokosmos ebenso gilt wie für den Makrokosmos, für statistische Quantenmechanik ebenso wie für die Kausalität der Gestirnsphäre, kurzum für die Totalität jeder raum-zeitlichen Existenzform.“

      ‚Welch erhabener Auftritt!‘, dachte der Himmelsforscher. Er hörte Albert Einstein zu, der von der Drehbühne aus mit sanfter Stimme über die Geheimnisse des Alls dozierte, bärtig, bauschhaarig und rundäugig wie der liebe Gott.

       Ein paar Etagen tiefer

      Schade, dass die Augsburger Reporter nichts von den kosmischen „Modell“-Vorstellungen des kalifornischen Chef-Astronomen wussten! Sonst hätten sie den geschätzten Lesern sicher die unmittelbar bevorstehende Blas-Geburt des ersten Gummiuniversums oder einer Trojanischen Himmelsmilchkuh angekündigt. Vielleicht gar einen Mondflug? Aber auch ohne futurologische Anregung besaßen die Unterhaltungskünstler von der Presse selbstverständlich Fantasie genug, ein vorbereitetes wissenschaftliches Abenteuer wirksam ins Gespräch zu bringen. Im Preisausschreiben für die schönste Schlagzeile gelangten in die engere Wahl:

      Todesflug ins Vakuum? Himmelfahrt zweier Draufgänger am Mittwoch nach Pfingsten. Prof. Piccard will Aufstieg ins elektrische Potential wagen. Werden Mörderstrahlen die Kabine der Höhenforscher durchlöchern?

      Obwohl der „tollkühne“ Professor die feinen Formulierungen der Zeitungsdichter als „dussliges Gequatsche“ bezeichnete (und damit ein bedauerliches Unverständnis für publizistische Volkstümlichkeit bewies), erhielten Mit- und Nachwelt dennoch zuverlässige Kunde: Wie die Baumwollhülle in der Morgendämmerung des 27. Mai zeltplanähnlich ausgebreitet wurde, insgesamt 2 600 Kubikmeter Wasserstoff zu schlucken bekam und sich in den Bodenfesseln aufbäumte wie das Theatergespenst des alten Hamlet oder ein fabelhafter Buckelwal. Nachdem die beiden Männer in die hermetisch verschließbare Kugelgondel hineingeklettert waren, frischte um 3 Uhr 57 MEZ plötzlich der Wind böig auf und riss den Ballon von den Haltegurten los. Aus den Mündern von siebzig prominenten Frühaufstehern und anderthalbtausend Zaungästen ertönte ein langgezogenes Ah!

      Auguste Piccard reckte seinen Lamahals und guckte aus enzianblauer Iris durch Rundrahmenbrille und Kabinenbullaugen: Menschenpünktchen, Spielzeughäuser, geometrische Ackerflächen, Kumuluswolken. In kehligem Schwyzerdütsch konstatierte er: „Bhütis, wir flügen! Wir flogen ab ohne Startzeichen. Nun haben wir kurzi Zyti.“

      Gegen die Aluminiumwände des Himmelslabors paukten die schwebenden Taue des befreiten Ballons. Im Raum rauschten die Sauerstoffflaschen. Da zischte es neben der Bodenluke, worauf der Professor den Schuderheuel seines eins-Komma-zwoundneunzig hohen Scheitels durch Kniebeuge auf Halbstock brachte. Mit echsendünnen Fingern versuchte er, einen elektrischen Sondenträger durchs Zugloch auszuführen, wobei ihm jedoch das Röhrchen zerbrach und Argentum vivum niederperlte. Nur mühsam konnte er die Öffnung mittels Kautschukzapfen verstopfen. Kaum war das geglückt, als Assistent Kipfer auf Luftdruckabfall und leises Pfeifen aufmerksam machte. Vereint suchend, fanden die Herren in der hinteren Gondelwand einen kleinen Riss, den Piccard mit Textilfäden und Vaselinecreme abdichtete. „Hoppla“, sagte er. „Journalisten sind öppe ahnungsvolle Leute.“

      Nun prüfte er Uhr und Barometer und erstaunte. Obgleich der Aufstieg erst vor einer halben Stunde begonnen hatte, stand die Quecksilbersäule bei 80 Millimeter fest. Demnach musste der Ballon so schnell wie ein guter horizontaler Kurzstreckenläufer vertikal in die Stratosphäre emporgeschossen sein, nämlich mit der Durchschnittsgeschwindigkeit von 9 m/sec. Aus der bisher unerreichten Rekordhöhe von 15 500 m schauten die auf Körben sitzenden Forscher nach oben und unten und gewahrten: schwarzblaues Firmament mit praller Aerostatkugel, kontrastarme Landschaft, Alpakaband des Lechflusses, Alpengipfel und in Richtung der fernen Adria eine Dunstglocke. Nach kurzer Überlegung entschlossen sie sich dazu, Ballastschrot abzuwerfen und noch einen halben Tausender weiter zu steigen. Während draußen das Barometer allmählich auf 76 Merkurius-Millimeter absank, machte sich drinnen eine sehr lästige Zunahme der Luftfeuchtigkeit bemerkbar. Zwar wurde das ausgehauchte Kohlendioxyd durch Kalipatronen absorbiert und der Sauerstoff aus Sprühkanistern künstlich ersetzt, doch der Atemdampf schlug sich an Kabinenwänden und Apparate-Isolationen nieder und beeinträchtigte die Funktionstüchtigkeit der Instrumente erheblich. Das vorgesehene wissenschaftliche Programm ließ sich jetzt kaum noch erfüllen. Lediglich der Geiger-Müller-Zähler tickte unablässig und zeigte ionisierte Strahlung an. – Als die Gondel in den Einfallswinkel der Sonne geriet, schob sich die Silbermine des Thermometers rasch auf 32 Grad empor, weshalb Piccard Vorbereitungen zum Abstieg traf. Um 9 Uhr 45 griff er zur Manövrierleine, um im Zenit des Ballons ein Ventil zu öffnen. Aber das Seil ließ sich nicht bewegen oder niederholen, so oft er auch daran zog. Das hatte er in knapp zwanzigjähriger Flug- und Forschungspraxis noch nie erlebt!

      „Donnstigs, wir sind Gefangene der Luft“, erklärte er. „Es gibt keine Möglichkeit zur Steuerung mehr. Uns bleibt nur abzuwarten, ob der Aerostat seine Allmacht ausnutzt und uns ins Jenseits entführt, oder ob er gnädig verfahren will. Am besten stellen wir uns erst mal auf Sauna-Verhältnisse ein.“

      Da die Temperatur inzwischen 38 Grad maß, legten die beiden Männer Jacken und Hemden ab, wobei der Professor einen Augenblick zögerte, seine milchweiße, unbehaarte Brust zu entkleiden, bis er bemerkte, dass sich auch Kipfer nicht mit „männlicher“ Mähne zu brüsten vermochte. Im Verpflegungsbeutel suchten sie vergeblich nach Erfrischungsgetränk; offenbar war die Korbflasche vergessen worden, weshalb sie Brot, Hirsebrei und Äpfel trocken hinunterschlucken mussten. Um den Durst zu lindern, leckten sie Kondenswasser von der Aluminiumwand ab.

      Bei alledem gelang es dem jungen Assistenten nicht, seine Erregung zu verbergen. Piccard drehte seine Zeigefinger wie Lockenwickel, ermahnte zur „Haltung“ und dozierte, dass keinerlei Gefahr bestünde, solange der Sauerstoffvorrat reiche, was bei ruhigem Verhalten bis zum Abend der Fall sein dürfte. – Bald darauf boten die Luftschiffer ein denkwürdiges Bild: Mit entblößten Oberkörpern und leicht vorgebeugten Schultern saßen sie einander Knie an Knie gegenüber und spielten Schach. Von den Stirnen tropfte Schweiß, weshalb die Herren ihre Hemden als Wischtücher gebrauchten oder behutsam wie große Fächer hin und her schwenkten. Infolge ihres eingeengten Aufenthaltsraumes von zwei Metern Durchmesser bereitete es ihnen Vergnügen, wenigstens auf dem Karobrett die Läufer, Springer und Türme zügig zu bewegen. Trotz des hochkonzentrierten Figurenturniers (bei dem der ermutigte Kipfer meistens gewann) versäumte es Piccard nicht, pünktlich im Abstand von fünfzehn Minuten Umschau zu halten und festzustellen, dass sich der Ballon noch immer in 15 500 m Höhe befand, wo er seit den Frühstunden am Himmel aufgehängt schien und unmerklich driftete, während draußen 50 Minusgrade und drinnen 40 Plusgrade herrschten.

      Um die Mittagszeit geriet der Kugel-Cockpit, der zum Glück dichthielt und sich als Druckausgleichskabine der Zukunft empfahl, in den Schatten des Aerostaten, wodurch sich die Hitze allmählich verminderte. Später entwickelte der Professor seinem Assistenten die Idee, eine vergleichbare, gut temperierte Tiefseegondel mit Ballastschleusen