Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Название Die Weltzeituhr
Автор произведения Eberhard Hilscher
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954629589



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Häuser, Bäume, Straßen und Wiesen klein und kleiner. Dann schwebte er irgendwo im Weltenraum und sah von der Erde nur noch ein paar Lichtpünktchen. Nach einem Weilchen begannen sich die Sterne zu drehen und wie Leuchtkugeln auf krummen Flugbahnen durchs dunkle Gewölbe zu bewegen, weshalb er nicht mehr unterscheiden konnte, wo oben und unten, hoch und tief, gestern und morgen war. Wie lange die Reise und Erkundung der vierten Dimension dauerte? Später glaubte er, sich an ein seufzendes Ausatmen zu erinnern, worauf er sich zu seiner Überraschung wieder der Erde näherte. Kaum hatte er begriffen, dass er durch kurzes Luftschnappen und fauchendes Hauchen die Höhe zu regulieren vermochte, blies er aus Leibeskräften, bis er endlich wie an einem Fallschirm in sein Bettchen flog.

      War das eine Not! Fortan fürchtete Guido, er könnte jederzeit aus der Welt hinausfallen, weshalb er abends die Daunendecke mit Stofftieren beschwerte und tagsüber sorgsam Umschau hielt, ob Gebäude und Bäume zum Anklammern in der Nähe seien. Beim Spielen im Garten bereitete das keine Mühe, denn überall ragten stämmige Hölzer und Zwerge empor, die teilweise lustige Namen hatten wie Amarelle, Griepenkerl, Jonathan, Boskop oder Mollebusch. Hinter Flieder und Sonnenblumen gab es verbotene „Kräuterbeete“, von denen ein geheimnisvoller Reiz ausging. Dort wuchsen Sadebaum, Aronstab, Seidelbast und Gesundheitspflanzen, aus deren Giften der Doktor wundersame Säfte und Pulver für seine Hausapotheke gewann. Bisher hatte Guido immer allein oder mit der Mutter gespielt. Jetzt entdeckte er in der Nachbarschaft Annette, die gern zum „Grasen“ hinüberkam. Dann lagen die beiden mucksmäuschenstill auf der Wiese und guckten zu, wie Käfer an Halmen hangelten, Admiralsschmetterlinge im Klee badeten und eine linksgewundene Hortensisschnecke ihre Fühler schwenkte wie ein Geweih. Später fingen die Kinder Eidechsen und grüne Heupferde, die sie auf ihrer Puppenbühne als Krokodile und Zirkusspringer auftreten ließen.

      Irgendwann verirrten sich die Spielgefährten in die „Kräuterbeete“. Und Annette erblickte eine Staude mit Früchten und meinte, sie seien lieblich anzuschauen und gut zu schmecken. So pflückte sie braunrote Schattenmorellen und aß und gab dem Guido auch zu essen davon. Da wurden ihre Augen verwirrt, und der blaue Reiter zockelte durch den Garten … Ach, wie erschrak Frau Dagmar darüber! Doch Theo erkannte, was die Stunde geschlagen hatte. Er bemerkte erweiterte Pupillen, Sehstörungen, Puls- und Atembeschleunigung, trockene Haut und diagnostizierte Atropinvergiftung infolge des Genusses von Tollkirschen. Sofort flößte er den Kindern Salzwasser ein, worauf sie erbrachen wie nach stürmischer Seefahrt und erschöpft einschliefen.

      Seitdem wussten die beiden „Sünder“, was gut und böse war. Tapfer nahm Guido die „Schuld“ auf sich, aber nicht das bekümmerte ihn vordringlich, sondern die unheimliche Wiederholung der Himmelfahrt. Dabei hatte er diesmal zeitweilig wie eine Eidechse schnappen müssen! Während des interessanten Krankenlagers in der Wohnstube entschloss er sich zögernd dazu, die Mutter um Aufklärung zu bitten, ob ein Junge auch ein Krokodil sein könne.

      „Nein, Prinzchen, das kannst du nur spielen oder träumen.“

      „Aber ob Krokodile manchmal träumen, dass sie Menschen sind?“

      „Bestimmt nicht, denn noch nie hat man Krokodile in die Schule gehen oder Zeitung lesen sehen.“

      Guido überlegte einen Augenblick und fragte weiter: „Woher weiß man eigentlich, was wirklich ist? Und wo bin ich, wenn ich träume?“

      „Natürlich in deinem Bettchen.“

      „Kann das nicht wegfliegen, wenn ich etwas tue?“

      „Im Schlaf tut man doch nichts. Da machst du nur die Augen zu und ruhst dich aus vom Spielen und träumst ein bisschen, als ob du an deinen Geburtstag denkst.“

      Die Antwort schien den Knaben zu befriedigen. Sein Schlafzimmer, in dem so viele Träume waren, kam ihm nicht mehr allzu gespenstisch vor. Vergnügt guckte er seine schöne Mama an, über deren Augen sich beim Herniederneigen große Lider wölbten. Plötzlich fragte er: „Und wo war ich, als ich noch tot war?“

      Frau Dagmar wunderte sich über ihren Sohn. Sie bemühte sich jedoch um behutsames Verständnis und erzählte, wie er einst in ihrem Bauch und vorher vielleicht beim lieben Gott gewesen sei.

      Da Guido dem „alten Petzer“ misstraute, erkundigte er sich nach dem „einst“ und „vorher“. Ob eine Stunde so lang sei wie eine Hand oder ein Arm? Auf der Uhr könne man ja die Zeit auch sehen und messen! Warum man die Wochen nicht aufessen könne, damit sie schneller weniger werden? Ob gestern und heute dasselbe sei?

      Die Mutter schüttelte den Kopf, worauf Guido erinnerte: „Aber gestern hast du gesagt, dass heute morgen ist.“

      „Ja, mein Junge, das ist eine verrückte Sache. Weißt du, heute war gestern und morgen, und heute ist eben heute, ebenso wie gestern heute war und morgen so viel wie heute sein wird.“ Allmählich ging Frau Dagmars Geduld zu Ende, doch das Büblein dachte sich immer neue Fragen aus, um sie am Fortgehen zu hindern: Warum heißt der Stuhl nicht Tisch? Warum fängt man mit eins zu zählen an? Warum fragt man warum? Schließlich: „Warum lebt man eigentlich?“

      „Um lieb zu sein, Prinzchen.“

       Zeitansage, 5. Jahr

      26. Januar: Im Düsseldorfer Herrenklub sprach Ahi, der ehemalige Zirkusstar und Kehlkopfartist, wieder einmal über das kommende Reich der Liebe. Vor dreihundert versammelten Bankiers, Magnaten, Generaldirektoren und Geldnehmern redete er bewegt über seine pekuniäre Not und darüber, dass nur großzügige Geldgeber von heute ein Anrecht auf die Fülle von morgen hätten. Im Machtstaat der Zukunft werde er bolschewistische und demokratische Schweinereien unerbittlich ausrotten und zugleich riesige Lebensräume erkämpfen lassen für Volk und Volkswirtschaft. Durch diese Liebesbeteuerungen gerührt, öffneten die Industriellen den Fonds der Fronde und spendeten raschelnde Papiermillionen für die baldige Aufwertung der Deutschen Mark. – Unterdessen machten fröhliche Schowi-Trupps die Bevölkerung mit künftigem Glück bekannt. Sie verkündeten das freie Zeitalter der Rowdies, zogen musizierend durch die Straßen und benahmen sich heldisch, indem sie zu zwölft einzelne Leute verprügelten, lachend alte Weiber auszogen und in Gaststätten sorgfältig Mobiliar zerholzten. Selbstverständlich wiesen sie den Vorwurf des Terrorismus entrüstet zurück, denn Wildwestspiele und Zahngoldspuckreize seien Ehrensache und patriotische Taten von Revolutionstribunalen. Da die Gesetze der Republik eine derartige „ritterliche Opposition“ schätzten und schützten, gönnte der Boss seinen Getreuen tägliche Silvesterknallereien, Schadenfeuer und Schießübungen in Arbeitervierteln. – Sechs Monate später wählten siebenunddreißig Prozent des Volkes das demonstrierte Heil.

      12. August: Besorgt über die Entartung des politischen und privaten Lebens erließ eine hohe Behörde Notverordnungen zur Wiederherstellung von Sicherheit und Sittlichkeit: Verbot von staatsgefährdender Freikörperbewegung, aufreizender Badekleidung, Nacktszenen im Theater, Film, Revue und Varieté; Gebot von christlichen, bauch- und busenverhüllenden Damentrikots und von züchtigen Zwickeleinsätzen in den zur Wasserbenetzung bestimmten Hosen der Herren. – Bei hochsommerlichen Temperaturen von dreißig Grad inspizierten Polizisten mit Ferngläsern die See- und Strandbäder des Reiches und erhoben von aufsässigen Nudisten Bußgelder bis zu 150 Mark. Unbefugte Flurhüter klebten in Erholungsparks auch auf unkeusche Plastiken die blauen Zahlungsbefehle des Regierungsamtes.

       Doktorspiele

      Wo hatte der Bengel nur diese Ausdrücke her! Sehr vergnügt sagte er „Arschloch“ und „Furz“. Obwohl ihn die Mutter darüber belehrte, dass man „so etwas“ nicht ausspreche, wiederholte er die Würzworte unentwegt. Da er auf Tadel lediglich durch gespanntes Aufblicken reagierte, entschloss sie sich dazu, einfach nicht mehr hinzuhören, bis Guido triumphierend verkündete: „Und vögeln kann ich auch noch.“ Nun lachte Frau Dagmar, denn es hätte vulgärer lauten können. Pädagogisch lobte sie die wunderschöne Benennung und fragte, ob sie wohl wissen dürfte, was das sei.

      Er erklärte: „Na, wenn die Kinder nicht mehr tot sind.“