Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Название Die Weltzeituhr
Автор произведения Eberhard Hilscher
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954629589



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Nie mehr Streit zwischen uns! Ab sofort gilt das Evangelium des Friedens nebst Befehl an die Menschheit: Liebet einander!“ – Nun begann die Polonaise der erschöpften Delegationen, wobei das Hohe Kollegium jedes Autogramm handfeucht beklatschte. Mit schwarzer Dokumententinte signierten und besiegelten die Staatsmänner von fünfzehn Nationen das Glaubensbekenntnis zur Ewigen Güte. Emphatisch, triefnass und ein bisschen verträumt sangen Amerikaner, Kanadier, Engländer, Franzosen, Deutsche, Polen, Tschechen, Japaner, Australier und Südafrikaner im Chor: „Dona nobis pacem“. Da die Sowjets überraschend Sympathie bekundeten, sah Eirena mit dem Füllhorn plötzlich ein Drittel der Erde zu ihren Füßen liegen.

      28. August: Im Goethemuseum zu Frankfurt am Main empfing Doktor Missopo einen berühmten Preis. Er steckte den Scheck des Freien Deutschen Hochstifts ins Brustfach seines Gehrocks, besah seine Remontoir-Uhr und empfahl dem andächtig lauschenden Publikum, keine Zeit zu vergeuden und chaotische Zeiten niemals zu dulden. – Sechs Wochen später begannen in Berlin die Hellen Nächte. Millionen Glühbirnen, bengalische Feuer und Lampions erfüllten die Goethe‘sche Forderung: mehr Licht!

       In klassischem Geiste

      Nach Meinung von Theo Möglich und Frau Dagmar war ihr Büblein in die beste aller Welten hineingeboren worden. Seit Kurzem lebte man also im gigantischen Universum auf dem einzigen Planeten mit vernünftigem Dasein: in heiterer Helligkeit, frei von Bedrohung, Krise und Krieg. Welche Hoffnung für die Völker und Klein Guido, dem fraglos beneidenswerte Entfaltungschancen offenstanden.

      Auf mannigfache Weise suchte der Vater Dispositionen und Begabungen des Sprösslings zu ermitteln. Beim Abhorchen und Abtasten gewahrte er das erstaunliche Phänomen, dass Herz und Milz des Babys rechtsseitig rumorten, während sich die Leber aus verrückter Linkslage meldete. Der Medikus zweifelte keinen Augenblick an der höchsten Bedeutung dieses Naturwunders, zumal die Umkehrsymmetrie möglicherweise auf eine einzigartige Hirnstruktur mit rechtem Sprach- und Schreibzentrum schließen ließ. Nicht einmal Goethe, den man einst nach der Abnabelung „für tot“ befunden wie Guido, hatte eine derart elitäre Organbildung besessen! Hingegen traute der Vater dem klassischen Knaben zu, was er an seinem eigenen beobachtete, nämlich gewitzte Reaktionen bei Pinselstrichen über Augenbraue, Nase und Fußsohle, Kopfnicken in Richtung feiner Flötentöne und eine frühe Fähigkeit zum Aufblasen winziger Spucke-Luftballons. Als die Mutter vom angeblich gezielten Erkenntnislächeln sprach und es zu den Intelligenzleistungen zählen wollte, demonstrierte Theo, wie das Jüngelchen eine abscheuliche Faschingsmaske ebenso fröhlich anlächelte wie ihr Gesicht.

      Fortan widersetzte sie sich energisch der Absicht ihres Mannes, das Kind episodisch in einer stummen Zone aufwachsen zu lassen. Er behauptete, wenn Guido keine nachahmenswerten menschlichen Laute vernähme, könne man von ihm eines Tages das Ur-Wort erwarten, das vermutlich Aufschluss gäbe über Sprache und Nationalität der ersten Hominiden. – „Rückständigkeit“, sagte Frau Dagmar verächtlich. Leider verhinderte ihr typisch weibliches Unverständnis die Durchführung des fabelhaften wissenschaftlichen Experiments, was den Doktor verdross, bis sich nach zehn Wochen ein anderes linguistisches Erlebnis anbot.

      Der eingeborene Sohn begann zu brabbeln. Obwohl sich seine endlosen Lall-Monologe anfangs so anhörten, als sei er nicht ganz richtig im Kopfe, registrierte der unterscheidungswillige Vater bald eine erstaunliche Klangfülle. Er bemerkte nach- und nebeneinander Vokale, Labiale und Dentale, ferner französische Nasalgongs, englische Lispler, kanarische Pfiffe und sudanesische Schnalzer. Zusammen mit Delfinischen Klicks und hochkomplizierten Gurgel-, Schnupf- und Puptönen verfügte Guido bereits im sechsten Lebensmonat über ein beispielloses internationales Lautrepertoire.

      Schließlich entwickelte er aus selbstimitatorischer Virtuosität heraus das Offenbarungswort: Dada. „Na also!“, riefen die Eltern entzückt und ergötzten sich an dieser ersten Manifestation modernen Künstlertums.

      In den folgenden Tagen schaute der Knabe mit großen Forscheraugen umher. Gemäß der Goethe‘schen Sentenz von der Begehrlichkeit des „Unendlichen“ streckte er seine Ärmchen nach vorbeifliegenden Vögeln, Sonneninseln und dem Vollmond aus. – Infolge der allmählichen Verdoppelung seiner grauen Hirnmasse fühlte er sich seit der Nebelzeit dazu angeregt, rutschend und kriechend den Wohnraum zu vermessen. An Tür und Schrankwand vorbei robbte er wie durch die glasierte Ziegelschlucht einer altbabylonischen Prozessionsstraße. Jeder Aufblick eröffnete ihm kolossale Dimensionen, weshalb ihm Tisch- und Stuhlbeine erschienen wie Kiefernstämme im Teppichmoos und das Sofa wie ein flämischer Wallach. Über bunt gestreifter Leinenwand lugte ein goldgelber, hochnäsiger Kopf hervor, lustig anzusehen, weil er rumpf- und bewegungslos auf einer Art Brummkreisel thronte. Neben ihm stand plötzlich giraffenlang die Mutter. Sie kickte zwei Bauklötze, die Guido betastete und beroch, bevor er sie wie High-Hat-Becken ergriff und in schnellem Rhythmus gegeneinanderschlug.

      Zum Winteranfang summierte Dr. Möglich den bisherigen Nahrungsverbrauch des Babys. Dabei fand er es bemerkenswert, dass außer Milch, Haferschleim, Zwiebackbrei, Zucker, Obst- und Gemüsepapp auch 10 Gramm Kinderpuder, 7 Gramm Erde, 2 Gramm Haare und ein Wäscheknopf zu bekömmlicher Verköstigung gedient hatten.

       Zeitansage, 2. und 3. Jahr

      24. Oktober: Als die Jobber und Clubmitglieder der New Yorker Börse am Abend ihre Geschäftsbücher prüften, gab es nichts zu summieren, sondern nur ungeheuer viel zu subtrahieren. Ei, verflucht: Schon bald nach Eröffnung der Corbeille waren bislang hochbegehrte Wertpapiere und Garanten der Weltwirtschaftsblüte hingeblättert worden wie Herbstlaub. Schwindelerregende Verkaufsaufträge und Baisse-Angriffe hatten zur vorsorglichen Verstärkung der Sicherheitswachen geführt. Mit Entsetzen beobachteten die Finanzmänner das Dahinschwinden des Aktienkapitals von General Motors, Radio- und United Steel Corporation. Der Ticker karikierte maschinelle Überproduktion, indem er endlose Zahlenschlangen ausspie und inflationär machte. Trotz blitzflinker Kursnotierungen verzögerten sich seine Kundeninformationen über die Marktlage immer mehr, bis der Rückstand zwei Stunden betrug und für nahezu jede Minute Rekordverluste von einigen Millionen Dollar auswies. Panik, Nervenzusammenbrüche, Raserei! Doch, Herrschaften, liebet einander! Infolge des raschen transatlantischen Absaufens von fünfzehn Milliarden Dollar breiteten sich die Wogen der Verzweiflung auch auf europäische Großbanken und Handelshäuser aus. „Nur einer kann uns retten“, sagten die christlichen Geldsäcke im Deutschen Reich, und am lautesten sagte es der „Retter“ selbst.

      Im nächsten Spätsommer, 10. September: Die versammelten Leute im Berliner Sportpalast erwarteten weder Eishockeyspiel, Boxkampf noch Sechs-Tage-Rennen, sondern die Wundershow der Schowis. Violette Wandbespannungen, „Heiligen“-Bilder und gedämpfte Lichteffekte schufen eine Stimmung wie vor katholischem Messopfer oder theatralischer Gralsfeier. Mit einem Male flammten Jupiterlampen auf. Fahnenschwenken, Trommelwirbel und Fanfaren kündigten die närrische Hauptattraktion des Münchener Zirkus Krone an, den Boss Ahi, der im Redesport innerhalb einer Woche den Rekord von zwanzig dreistündigen Lall-Monologen aufgestellt hatte. Nach bejubeltem, forschem Erscheinen legte der Kehlkopfathlet seinen Feldherrnmantel ab und grüßte, wobei er die rechte Hand wie eine Fliegenklatsche schlenkerte. Dann feuerte er aus dem Terzerol einen Schuss ab und trat ans Mikrofon. Mit rau-gutturaler Stimme rief er: „Elendes Gesocks!“ – Am folgenden Morgen berichtete die nationale Presse, jede Losung sei mit „stürmischem Beifall“ bedacht worden. In der Tat beklatschte das Publikum die staunenswerte Begabung des Bosses, stundenlang Spruch an Spruch zu reihen und heilig-nichtssagend die Üppigkeit seines „Genies“ darzutun. Wie ein Hypnotiseur wiederholte er eindringliche Formeln: Schandbares Unrecht sei einem Volke geschehen. Schandbuben und vaterlandslose Verbrecher hätten die Ehre des Volkes verkauft. Wie ein Mann aufstehen müsse das Volk gegen „schurkische Ehrabschneider, Weltverjudung und bolschewistische Versauung“. Während Ahi diese Reizworte in die Menge schleuderte, trommelte er mit den Fäusten aufs Pult und gelangte auf einen Höhepunkt. „Attacke!“, brüllte er unvermittelt. „Zickezacke, Heil!“, schrien die Schowis im Chor. „Attacke – Zickezacke!“ Dreimal reproduzierte sich das erprobte rituelle Responsorium, in dem die Getreuen eine Weltkriegsreminiszenz