Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Название Die Weltzeituhr
Автор произведения Eberhard Hilscher
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954629589



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der Luft schwimmen und im Winter als Dampfvogel aus dem Mund flattern. Manchmal glich er einem Schopfgibbon, der sich an der Mittagstafel rekelte und viel ausgeschimpft werden musste, weil er ungezogen schmatzte, manschte und kleckerte. Ein andermal hopste er (stellvertretend für seinen untadeligen Herrn) mit schmutzigen Schuhen auf dem Sofa herum, oder er wusste die Angehörigen zu erfreuen, indem er Schlüssellöcher mit Brotkrümel verkleisterte und unpikierte Salatpflanzen zu Blumensträußen bündelte. Außerdem erfüllte Daus wichtige Beschützerfunktionen. Aus der Steckdose vermochte er, Funken zu sprühen wie eine Wunderkerze und Guidos Widersacher furchtbar mit „Totmachen“ zu bedrohen. Schließlich schwebte der hilfreiche Geist allnächtlich als undurchdringlicher achtäugiger Regenschirm über dem Bett des Schläfers.

      Nach dem Erwachen stand der treue Begleiter sofort wieder zu Diensten. Er tat schön vor dem blondbeschopften Gebieter, den es heute danach gelüstete, aus tschibukartiger Strohhalmpfeife zu schmauchen, pantomimisch imaginäre Lakritze-Luftbonbons zu verspeisen und sich selbst in Luft aufzulösen. Während die Mutter rufend suchte, lief der zaubermächtige Knabe stundenlang mit Tarnkappe durch die Wohnräume, leise kichernd, himmlisch-heimlich und unsichtbar.

      Nun lebte Frau Dagmar periodisch mit zwei Nichtexistierenden oder Versteckspielern zusammen, denn seit einigen Wochen sah sie auch Theo nur noch zu den Mahlzeiten. Wenn sie ihm die jüngsten Schelmenstückchen des Söhnchens schilderte, mimte er beiläufig Interesse, aber sie gewahrte, dass er weder auf die Kinderspäße achtgab noch auf ihre zarte Einladung, sich wieder mal „was Hübsches“ zu gönnen. „So?!“, sagte er abwesend. „Um sich die Lippen nass zu machen, muss man nicht küssen.“ Eilig entschwand er ins Arbeitszimmer.

      Früher hatte sie geglaubt, seine desillusionierenden Reden bedeuteten eine Schutzreaktion gegenüber gefühlsmäßiger Ergriffenheit. Es konnte doch nur ein Medizinerulk und nicht sein Ernst sein, die Liebe als „vernunftwidrigen Fortpflanzungsmechanismus“ und „schlimme Krankheit“ zu bezeichnen, ausgelöst durch „liederliche“ innersekretorische Vorgänge beim Anblick sexueller Reizzonen! Aber neuerdings zweifelte sie bisweilen an seiner seelischen Empfindungsfähigkeit und der Bereitschaft, erotische Vergeistigungen anzuerkennen. Ob er etwa mit der laxen zeitgenössischen Moral übereinstimmte, mit dem Zeitungsgeschwätz vom Revisionsbedürfnis der Ehe und Kult des Nackten? Ob es gewagt gewesen war, diesen nahezu zwanzig Jahre älteren Mann zu heiraten?

      Seltsame Grübeleien! Als sie ihn am Sonntagabend besorgt auszuhorchen versuchte, berichtete er zunächst ausweichend von einem sensationellen Artikel im Fachblatt. „Kürzlich“, sagte er, „wurde ein junger Assistenzarzt aus der Provinz entscheidend angeregt durch den Aphorismus: ‚Der sicherste Weg zum Herzen einer Frau geht durch die Vagina‘“ „Eine sehr virile Marginalie“, meinte sie.

      „Bitte schön: Mein Kollege hielt Ausschau nach einem vergleichbaren schwarzen Kanal in seinen eigenen Innereien und erinnerte sich an die blauen, dünnwandigen Blutbahnschläuche. Kurz entschlossen anästhesierte er eines Tages seine linke Ellenbeuge, rief ‚Vena cephalica, öffne dich!‘ und schob einen geölten Katheter in Stromrichtung aufwärts: bis zum Schlüsselbein und dann, unter Selbstkontrolle vor dem Röntgenschirm, durch die obere Hohlader in die rechte Herzkammer.

      Toll, nicht wahr?“

      „Ja, gewiss! Und warum erzählst du mir das?“

      Er blickte sie halb erstaunt, halb spöttisch an. „Gedenke des Alters“, antwortete er leise. „Vielleicht ergibt sich mal die Notwendigkeit, ein tugendsames Herz in beschriebener Weise mit Traubenzuckerbalsam beträufeln und auffrischen zu müssen. Im Übrigen hoffte ich, meine Probleme würden dich interessieren.“

      „Wieso: deine Probleme. Hast du einen ähnlich gefahrvollen Unsinn vor?“

      „Wie dürfte ich es wagen, mein Schatz! Trotz gelegentlicher Unaufmerksamkeit verstand ich, dass dir der liebe Gott vieles petzt.“

      Sie lachte und fühlte sich ein bisschen durchschaut. Doch er missdeutete ihr Lachen und Fragen als Zeichen eines heiter-verblüffenden Mitwissens um seine geheimsten Ideen, weshalb er nach kurzer Pause erklärte: „Du kannst schon recht haben mit deinen Befürchtungen. Ich gäbe etwas darum, wenn ich ebenso verrückt zu experimentieren vermöchte wie der Mann aus der Provinz und etwas fände, was das Leben sinnvoller macht. Vermutlich müsste man es zu verlängern suchen. Wie? Das weiß ich noch nicht, obwohl bestimmt nicht durch Injektionen von Stierhodenhäckerle.“

      „Um Himmels willen! Daran hast du gedacht?“

      „Nein, nein! Ich wünschte mir nur genug Zeit zum Lesen und Überlegen. Der kleine Sprechstundenalltag befriedigt mich nicht mehr. Am liebsten hielte ich Sprechstunden ab für die ganze Welt, die heute dringend einen Herz-Arzt braucht.“

       Inspektion des Universums

      Mehrmals hatte er inständig darum gebeten, man möge ihn in Ruhe lassen. Doch da er ein berühmter Erfinder, Entdecker und Prophet war, glaubte die Öffentlichkeit, ein Recht auf sein Privatleben zu besitzen.

      Als er eine Woche später in der stillen Schiffskabine der „Bergenland“ an die turbulenten Tage in der Metropole New York zurückdachte, standen ihm noch immer die gottlob unskalpiert gebliebenen Haare zu Berge. Ojemine, wie aufregend verlief die unscheinbare Erholungsreise eines Naturforschers!

      Fürchterliche Erinnerung an Autogrammstunden, Empfänge, Reden an die Nation, Opernbesuche und Stadtrundfahrten. Menschengetümmel wie beim Triumphzug von Old Washington nach der Schlacht von Yorktown. Überall ein spürbares indiskretes Interesse, vermischt mit Sensationslust, weshalb es ihm Spaß machte, dass seine „alte Dame“ mit sichtbehinderndem Sombrero neben ihm thronte. Um die Bewunderer nicht zu enttäuschen, hatte er artistisch seinen schwarzen Filzhut in die Luft geworfen und jauchzend gedankt für Blumengeschosse, die ihm hart ums Haupt schwirrten. – Dann sein unbändiges Gelächter vorm steinernen Ebenbild und Reliefdenkmal an der Riverside-Kirche, wo ihn die Leute umdrängten wie einen Heiligen. Am liebsten hätten sie ihm wohl die bauschige, graumelierte Mähne ausgezupft und ins Reliquiar getragen wie seine ausgetretenen Schuhe, die ihn künftig in der „Halle des Ruhmes“ vertreten sollten.

      Am schlimmsten trieben es die Publizisten, Bildreporter und Werbeagenten. Bis zu zwanzigtausend Dollar hatten ihm die verrückten Reklamechefs geboten für zehn Worte über seinen bevorzugten Whisky, Instant-Coffee, Tabak, Bubble-Gum, Deo-Spray oder Rasiercreme. Ungläubiges Staunen, als er seine unzivilisierte Geringschätzung für Bucks und „all diese Dinge“ bekundete. – Schließlich die Massenmeetings und Pressekonferenzen!

      Frage: „Wie beurteilen Sie die Deutschen?“

      Antwort: „Drollige Leute! Obwohl sie mich für eine stinkende Blume halten, stecken sie mich gerne ins Knopfloch.“

      Frage: „Wie ernst nehmen Sie die Drohung der Schowis, beim Machtantritt verhasste Köpfe rollen zu lassen?“

      Antwort: „Vorwiegend heiter. Sobald sich Deutschlands Magen füllt, dürften sich die Kassen des Bosses leeren. Ansonsten würde man binnen Kurzem wissen, wie viel mein Gehirn wiegt.“

      Frage: „Rechnen Sie demnächst mit einem neuen Krieg?“

      Antwort: „Nein. Falls nur zwei Prozent der Wehrpflichtigen die ‚Pflicht‘ verweigerten, besäße keine Regierung genügend Gefängnisse für das Heer der Friedensfreunde.“

      Und so weiter und so fort! Meistens verzapften die Interviewer interrogativ Blödsinn, weshalb sie seine Foppereien nicht verstanden und auch nicht die Gegenfrage: „Warum lebt man?“ Heiter-hintergründig erklärte er ihnen: „Um Menschen zu erquicken, von deren Wohlergehen das eigene Glück abhängt.“

      Nun fuhr der große Mann (dessen Längenausdehnung im unbeschleunigten Erdsystem allmorgendlich 176 Pariser Zentimeter betrug) als Zeitflüchtling in den Frieden maritimer und kalifornischer Entlegenheit hinein. Bald würde er ungestört den Garten Amerikas und die Wunder des Alls betrachten können. Trotz halber Kontinentumschiffung veränderten sich die Horizonte wenig. Es gab Ausblicke auf