Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Название Die Weltzeituhr
Автор произведения Eberhard Hilscher
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954629589



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Das würde die gesamte Weltwirtschaft verändern, wobei Kohle und Erdöl nur noch geologisches Interesse hätten. Dann stünden sicher auch Energien zur Verfügung, um ein Luftschiff in erwünschter Weise zu manövrieren.

      „Warum fallen wir nicht?“ Musste sich das tragende Wasserstoffgas nicht längst in der Kühle des Raumes zusammenziehen? Welche Erfahrung galt eigentlich noch in diesen bisher unerfahrenen Dimensionen? Vielleicht würden auch die Sauerstoffspeicher schneller aufgebraucht als berechnet? Schlimme Überraschungen, dachte Kipfer. Ursprünglich hatte man jetzt gemütlich am Starnberger See dinieren wollen, und nun schwebte man schon einen halben Tag lang scheinbar reglos in der Stratosphäre! Unheimlich sachte vergingen die Stunden. Ob möglicherweise das Barometer nicht mehr funktionierte, weil es sich fast gar nicht rührte?

      Sechzehn Uhr, siebzehn, achtzehn, neunzehn Uhr … Die Sonnen-Tomate rollte die Himmelsböschung zum Westhorizont hinab; zwischen Schäfchenwolken hüpfte der Mond wie Eidotter. Erst als das solare Licht gegen zwanzig Uhr in den Glarner Bergen verglühte, begann der Ballon plötzlich zu schrumpfen und zu sinken. Innerhalb weniger Minuten verdoppelte sich der Luftdruck, weshalb sich Assistent Kipfer erschrocken einen bienenkorbähnlichen Schutzhelm überstülpte. Von dem Augenblick an gefiel es Professor Piccard, Kaltblütigkeit zu demonstrieren. Er holte eine Stabtaschenlampe aus der Joppentasche, hielt sie wie ein Mikrofon vor den Mund und sagte: „Gottwilche, liebe Zuhörer der Nachwelt! Möge es gelingen, die Schwingungen meiner Stimme hörbar zu machen, damit Sie narrochtige Kunde erhalten von zwei Aeronauten, deren Gondel gegenwärtig auf die Erde stürzt. Gewiss könnten wir die Geschwindigkeit durch Ballastabgabe bremsen, doch da unsere Sauerstoffflaschen nahezu leer sind, dürfen wir keinen Dilldopp riskieren. Darum lassen wir uns widerstandslos fallen. In 4 500 m Höhe haben wir soeben die Bodenluke geöffnet; aus Spaß sende ich ein paar Blinkzeichen aus. Im Mondlicht erkennen wir unter uns eine hochalpine Landschaft mit Schneegipfeln, Zacken und Steilwänden. Wenn ich nicht irre, sind unsere Chancen wäger ausgezeichnet, an einem Felsen zu zerschellen oder in einer Gletscherspalte z’Platze zu kommen. Hurra, wir plumpsen! Hinein in die Flühe oder die Eislawine! Adieu, geschätzte Nachwelt!“

      Ein langer Arm zog die Reißbahn auf. Dumpfer Gong beim Aufprall. Drei Sprünge der Kugel, in der alles durcheinanderwirbelte. Zusammensacken des Ballons. Absolute Stille.

      Nach einem Weilchen reckte Piccard hinterm Sandsack seinen Lamahals und konstatierte: „Sanfte Landung. Und Sie sind ein Held, Kipfer!“

       Zeitansage, 4. Jahr

      1. April: Während das Statistische Bundesamt mitteilte, dass die Vereinigten Staaten nunmehr in New York, Fifth Avenue, ein 381 m hohes, höchstes Gebäude der Welt besitzen und ferner von 35 Millionen Automobilen der Erde allein 27 Millionen ihr bekömmliches Kohlenoxyd auf amerikanischen Straßen verströmen, gab der Kaiser a. D. von China seinen Entschluss bekannt, bald als Opernsänger zu debütieren.

      15. Mai: Im Vestibül des neuen Bolognesischen Theaters erging an Arturo Toscanini das Gebot: Vor dem geistlichen Konzert ist der Canto dei fascisti zu spielen. Als sich der Dirigent mit der Begründung weigerte, kein echter Künstler könne politische Vorschriften oder Einmischungen dulden, wurde er durch Ohrfeigen und einen harten Jab über neurömisches Recht belehrt. Seitdem befindet er sich in Sicherheitsverwahrung von achtzehn Kriminalisten und vier Karabinieri.

      12. Oktober: Bei einem Kameradschaftstreffen der Aufrechten in Harzburg versprachen die Bankiers eine Verzögerung der wirtschaftlichen Neubelebung, damit die Schowis demnächst als „Bezwinger der Krise“ und „Retter der Nation“ auftreten könnten. Ahi nahm großzügig ein Finanzpaket in Empfang und versprach seinerseits: a) den Konzernherren die rücksichtslose Bekämpfung der Gewerkschaften, b) den Gewerkschaften die rücksichtslose Bekämpfung der Konzernherren, außerdem höhere Löhne und Frieden, c) den Militärs ehestens lohnenden Krieg, d) allen bisherigen Verlierern den Sieg des Volkswillens über rekordsüchtige Dollarplutokratie und jüdisch-bolschewistischen Internationalismus. „Attacke!“, rief der Boss. „Entweder wählt ihr mich – oder das Chaos.“

      ‚Er ist das Chaos‘, dachte Dr. Möglich am nächsten Morgen bei der Zeitungslektüre.

       Märchenstunde im Zwischenreich

      Eines Tages entdeckte Guido, dass seine Mutter schön war. In der Tat hatte Frau Dagmar blonde Haarlocken und helle Augen, über die sich beim Herniederschauen große Lider wölbten. Im Übrigen aber besaß sie eher strenge Gesichtszüge: ein ovales Antlitz mit leicht vorspringenden Wangenknochen und eine schmalrückige Nase. Dem Kinde erschien die Mutter nicht nur schön, sondern zugleich lieb wie eine Fee, die alle Wünsche erfüllte, und am meisten gefiel es Guido, wenn sie ihm Geschichten erzählte. Dann durfte er auf ihrem Schoß in der Kuschelecke unter dem Busen sitzen und hören, dass „einmal sieben Zwerge“ waren.

      „Diese Zwerge“, erklärte Frau Dagmar, „luden vor vielen Jahren einen spielenden Knaben dazu ein, in ihrem Reich bei einem dreitägigen Fest etwas vorzusingen. ‚Das ist gar nicht lange‘, dachte der Junge und hüpfte zusammen mit den Knirpsen in eine Karussellgondel. Jetzt begann sich das Karussell schnell und immer schneller zu drehen, während er immer kleiner und die Gondel immer größer wurde. Ehe er sich’s versah, verwandelte sich der Raum in eine Liliputstadt, in der es keine Nacht gab, sondern nur blinkendes Licht und hunderttausend Wichtelmänner. Sie freuten sich, als er ihnen alle Lieder vortrug, die er kannte. Nachdem er gesungen, eine Menge Eierkuchen und Pudding gegessen und dreimal geschlafen hatte, schenkten ihm die kleinen Leute einen Korbwagen voll Gold, bremsten das flinke Riesenrad und ließen ihn just an seinem Spielplatz aussteigen. Aufgeregt lief er ins Haus, wo ihm eine alte Frau begegnete und ihn fragte, wer er sei. Das wunderte ihn, bis sie beide ausrechneten, dass er nicht drei Tage, sondern dreißig Jahre im Geisterreich gewesen war.“

      Nach diesem Märchen wollte Guido gewöhnlich noch die Erzählung vom König hören. „Ja, der König“, sagte Frau Dagmar. „Er machte den ganzen Tag lang nichts anderes als Zeitungslesen, Papierbekritzeln und Kuchenessen. Da er nur sich selbst liebte, lebte er ganz allein in den vielen Zimmern des Palastes. Um die Mittagszeit trippelte er in den Empfangssaal hinüber, wo ihn seine Höflinge und Soldaten mit Fahnen, Trommeln und Trompeten begrüßten. ‚Allmächtig und gnädig bist du, o Herr!‘, riefen sie dem Gebieter entgegen, der als Hoheitszeichen eine große Fliegenklatsche trug. Misstrauisch schritt er die Versammlung ab, beschnupperte seine Gefolgsmänner und klatschte jeden platt und tot, der nicht richtig roch. Nun hielt er eine lange Schimpfrede und befahl, ihm Denkmäler zu bauen und in den Heiligen Kampf zu ziehen. – Während der König wieder Zeitung las, Papier bekritzelte und Kuchenkrümel leckte, reckten seine Getreuen die Nasenspitzen wie Rüssel über die Köpfe, beschnüffelten alle Leute und schossen mit Feuerspritzen auf jeden, der nicht richtig roch. Weil es so viele Andersriechende gab, herrschte jahrelang Krieg im Lande. Manchmal brachten die Krieger Gefangene in die Stadt. Darunter befand sich einmal eine schöne Maid, die am Geburtstag des Regenten ihr goldenes Haar opfern sollte, weshalb sie sehr weinte. Doch es gelang ihr, heimlich einen geflügelten Boten zum Prinzen Wendehals zu schicken, der plötzlich auf dem Schlosshof landete und die Feuerspritzen der Palastgarde auspustete. Im Thronsaal schimpfte der König fürchterlich über Verräter und Eindringlinge. Er schlug mit der Fliegenklatsche wütend um sich, aber Wendehals lachte und streckte ihm die Zunge heraus, an der die Majestät schließlich festklebte. Mit einem Male verschwand der ganze Spuk, und der Retter konnte das befreite Mädchen heiraten.“

      Die Mutter wusste noch viele fabelhafte Geschichten: zum Beispiel vom wandernden Taler auf dem Jahrmarkt oder von einer Grille, die mit der Nachtigall einen Pakt abschließen wollte, sich gegenseitig nicht aufzufressen. Doch am liebsten lauschte Guido auf die Märchen vom bösen König und den sausenden Heinzelmännchen. Vielleicht hörte er sie zu oft?

      Eines Nachts schien es ihm so, als ob sich seine Beine wie im Wasser der Badewanne vom Grund lösten und nach oben schwammen. Nanu? Ängstlich ruderte er mit den Armen und bemerkte, wie er unversehens und kopfständig gen Himmel fuhr. Natürlich wollte er schreien, aber die Rufe blieben ihm im Halse