Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Название Die Weltzeituhr
Автор произведения Eberhard Hilscher
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954629589



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       Sein Kampf in Bildern oder: Zeitansage, 6. Jahr

      31. Januar (1. Bild): Nachdem der Boss den Bankiers und Finanziers baldige internationale Kreditwürdigkeit und Allerhöchsten Schutz versprochen hatte, ließen sie den Großkopfetenhut im Kreise herumgehen. Grinsend überreichten sie dem Retter der Nation drei Millionen Reichsmark als Morgengabe. Während Ahi auf die Kanzel hinaustrat, wo er aus dem Terzerol drei Schüsse abfeuerte, stellten die Konzernherren das Fließband zur Gangster-Show an. Vom Brandenburger Tor her beförderte die Rollbahn jubelnde Schowi-Trupps mit Fackeln, Fahnen und Fanfaren durch die Nacht. Transparente verkündeten den Kampf gegen Blähungen und unreines Blut, worauf viel Volk, vom Spektakel fasziniert, auf die Drehbühne sprang und zu den Rauschgiftbuden hindrängte. Berichterstatter Os prophezeite, der Spuk werde entweder zwölf Tage oder zwölf Jahre dauern. Aus dem Lautsprecher dröhnte hingegen eine rau-gutturale Stimme: „Ich werde ein Fundament für Jahrtausende bauen. Wenn von dieser großen Stadt und Metropole kein Stein mehr auf dem anderen liegt, soll die Welt noch immer unserer heiligen Bewegung gedenken.“

      27. Februar (2. Bild): Am Nachthimmel über dem Reichstagsgebäude zu Berlin breitete sich Feuerschein aus. Gespenstisch spiegelte sich die brandumrandete Silhouette des Kuppelbaus in der Spree. Menschen rannten und gafften. Mit Verspätung trafen zehn Löschzüge ein, aus denen Wasserschläuche wie Anakonda-Schlangen hervorquollen und die Flammenflut im Parlament erstickten. Unterdessen tanzte Ahi in verqualmten Wandelgängen und schrie: „Jetzt hab ich sie! Es gibt kein Erbarmen. Lasst Köpfe rollen, Kerls, und killt! Schließlich senkte sich Dunkelheit über die Szenerie, doch in den Straßen kehrte nicht Stille ein wie sonst. Gestalten und abgeblendete Fahrzeuge huschten umher. ‚Du musst dich in Sicherheit bringen‘, dachte Os. Aber er wartete ab bis zum Hahnenruf.

      21. März (3. Bild): Unweit eines Kurorts für Herzkrankheiten wurde das Konzentrationslager Rotenfeld eingeweiht. Wie die Staatszeitung meldete, äußerten sich Geistliche sehr anerkennend über die vorbildliche Unterbringung der Schutzhäftlinge in sauberen, luftigen Zimmern mit fließendem Wasser, über gesunde Kost und korrekte Behandlung. Vom Appellplatz her näherte sich im Laufschritt eine nummerierte Kreatur mit gelbem Kürbiskopf, blauem Auge und Zahnlücken. Mühsam erkannte der Besucher den ehemaligen Berichterstatter Os, dessen Atem pfiff und leise Worte ausstieß: „Sagen Sie den Freunden, es ist bald vorüber, bald aus. Ich bin am Ende, und das ist gut. Ich wollte nur Güte und Frieden.“ – Wie die Wandzeitung meldete, gelten die sumateraischen Batakstämme als die letzten Menschenfresser, die Gefangene auf Bambusstangen rösten und zum Reis verspeisen. Gemäß moderner wissenschaftlicher Erkenntnis bietet jeder frische Leichnam zwölf Pfund Proteine und Rohstoff für fünf Pfund Leim, ein Pfund Salz, ein Viertelpfund Zucker und diverse Mengen Phosphor und Eisen.

      10. Mai (4. Bild): Am Nachthimmel über dem Opernplatz zu Berlin breitete sich Feuerschein aus. Doch kein Löschzug erschien im Zentrum. Unter den Linden marschierten Schowi-Kolonnen, oder sie brachten auf Lastautos und Ochsenkarren Bücherballen herbei. Während Blechkapellen musizierten, Licht- und Schalltrichter in Aktion waren, Volkslieder erklangen und die Kameraleute der Universum-Film-AG munter kurbelten, warfen Studenten mit lauten Bannflüchen „undeutsches“ Schrifttum in lodernde Scheiterhaufen. Telepathisch zuckte der Berichterstatter Os im Rotenfeld zusammen. Begeistert begrüßte die Versammlung den Entschluss Ahis, künftig allen Ehepaaren, ausgezeichneten Schülern und Erziehern den „Kampf“ zu verordnen, um jedermann darüber zu belehren, dass sich ein politisches Genie große Versprechungen im Leben und in einem Literaturwerk dreitausend Sprachfehler leisten darf.

       Eine schöne Bescherung

      Doktor Domagk liebte weiße Mäuse. Wenn er sie im gekachelten, wintergartenähnlichen Laboratorium fütterte, pflegte er sie zu streicheln, denn er sympathisierte mit ihrem unzeitgemäßen Kosmopolitismus und Kulturbedarf. Kopfschüttelnd hörte die Assistentin zu, als er den langgeschwänzten Albinos ein langgezogenes Flötenmotiv von Mozart vorpfiff und sie zum Liebestod für die Menschheit zu begeistern suchte. „Stellvertretung bald unerwünscht“, kommentierte ein unsichtbarer Boss.

      Doktor Domagk vervollständigte mit rechtsschräger Schrift, deutsche und lateinische Buchstaben hochverräterisch mischend, Rotauges Chronik und Trimmprogramm. Er zog den weißen Kittel aus und sagte bye-bye. Von Station Westende aus hätte er bequem mit der Schwebebahn in Richtung Vohwinkel fahren können. Aber da er täglich stundenlang auf einem Drehschemel sitzen musste, schien es ihm ratsam, im vierzigsten Lebensjahr etwas gegen Hämorrhoiden und für die arterielle Strömungsgeschwindigkeit von 50 cm/sec. zu tun. Folglich marschierte er allmorgendlich vom Wohnhaus zum Pathologischen Institut und allabendlich zurück ins Zooviertel.

      Doktor Domagk lief durch den Schwarzen Weg und die Tiergartenstraße. Ausblick: bewaldete Höhen, das Wupper-Wasser im Tal, mausgraue Grünanlagen, Viadukte und Villen unter Wolken, die den Dezember milde machten. Anblick: stattlicher Herr mit Vierkantschädel, Fledermausohren, rotbackigem Gesicht, kleinen Augen, fast wimpern- und brauenlos. Einblick: Gedanken an Erdbeeren, steigende Eierpreise, Bakterien, befohlene Volks- und Leistungsgemeinschaft, Abneigung gegen Teamwork.

      „Als ich nach Hause kam“, erzählte der Chef den weißen Mäusen und der Assistentin, „sah ich den Schrei und ein Mädchen in Rot. Unverständlich, warum man mich nicht gerufen hatte. Von Ihnen, geschätzte Mitarbeiterin, wäre in vergleichbarer Situation sicher ein Telefonat geführt worden?“ Da sie nickte, sagte er: „Falsch! Die Experimente eines Forschers darf niemand stören. Wissen Sie, es gab nur ein bisschen Aufregung, weil mein Töchterchen Hilla beim Spielen eine Nähnadel zum Impfen benutzen oder die Festigkeit des Handwurzelknochens testen wollte. Kurzum, die Spitze brach ab, Geheul brach aus, ein Kollege von der Chirurgie entfernte den Fremdkörper und verschrieb der kleinen Patientin schmerzstillendes Brausepulver.“

      Nun setzte der Pharmakologe die Versuchsserie fort. Er würzte Eibouillon mit Streptokokken, angelte nacheinander am Rückenfellchen zwei Dutzend Mäuse aus dem Gehege und lud sie zum Karma-Yoga ein. Per os verabreichte er ihnen mittels Kanüle die Mikrobensuppe und animierte die Tiere zum Fifty-fifty-Spiel. Nach einer Stunde (und nochmals am Nachmittag) durfte nur Rotauges Truppe erneut zur Nackenmassage antreten und zugleich je einen Kubikzentimeter basischen Azofarbstoff schlucken. Diese Prontosil-Limonade tropfte Domagk auch auf Spaltpilzlösung in Reagenzgläsern. Bald darauf untersuchte er sowohl Gewebeproben der beiden Mäuse-Korporationen wie den Pilzschnaps unterm Mikroskop und gewahrte mennigrote oder tintige Pünktchen, die in bestimmten Präparaten gleichsam wegtauten. – Am nächsten Tage meldete Rotauges Chronik das muntere Überleben seines gesamten Clans und das klägliche Abnibbeln der separierten, unversorgten Mäuse-Elf.

      In der Weihnachtswoche wurde Doktor Domagk zu Hause vom Chirurgen erwartet, der eine ernste Aussprache wünschte. Trotz korrekter Entfernung der Nadelspitze, erklärte der Kollege, und trotz mehrerer Inzisionen habe sich der Zustand der kleinen Kranken überraschend verschlimmert. Die Ausbreitung der Phlegmone sei in einem Maße bedenklich, dass er, sozusagen, dringend die Amputation des Unterarms empfehle. „Fällt Ihnen gar nichts anderes ein?“, fragte der beglückte Vater. „Hoffentlich möchten Sie das Pfötchen nebst Elle nicht sofort in der Aktentasche mitnehmen. Ob Sie sich mit der famosen Spirituskonservierung noch ein wenig gedulden können? – Recht herzlichen Dank!“

      Nach der Verabschiedung des Arztes stand der Forscher lange an Hillas Lager, wo er seine Forschheit rasch verlor. Ach, es sah wirklich übel aus mit dem lieben Kind: Patscherl wie Bärenpranke, Schüttelfrost, anhaltendes und ansteigendes Fieber, alarmierende Blutbildbefunde. Natürlich lag eine Infektion vor. Aber während man bei Bayer & Co. die Erreger fernster Tropenkrankheiten entdeckt und bekämpfbar gemacht hatte, gab es gegen viele europäische Seuchen und die Streptokokken dieser simplen Sepsis noch fast keine geeigneten Mittel.

      Was tun? Wenn nicht bald etwas geschah, würde Hilla tatsächlich nur durchs Hackebeilchen zu retten sein. Vielleicht sollte man versuchen, alle Faktoren bedenkend, die verursachenden Bakterien zu bekriegen? Nun ja, durch Prontosil-Gaben wie bei den weißen Mäusen. Die jüngsten Experimente hatten doch zuverlässige Wirkungen erwiesen und ohnehin eine Anwendung in der Humanmedizin