Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Название Die Weltzeituhr
Автор произведения Eberhard Hilscher
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954629589



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über Ursprünge, Geburt und die Möglichkeit des anfänglichen „Lebens im Finstern.“

      Beim Zeichnen offenbarte Guido weitere Spezialkenntnisse. Er malte Impressionen und Dada-Bilder mit grünem Himmel, gelbem Wasser und blauen Häusern, in denen Tische und Wallachsofa sichtbar waren. Ferner überragende Menschen, deren Melonenhäupter bisweilen zwei Nasen, drei Augen und aufgeklebte Dreieckshüte trugen. Auf unbekleideten, transparenten Rumpf-Ellipsen erschienen Herz, Magen und auffällige Fransenmarkierungen. Ungefragt erläuterte der Junge: „Die Frauen haben Haare unterm Bauch, damit man nicht sieht, wo der Puller fehlt. Und die Männer haben Haare auf der Brust, damit man nicht sieht, wo die Kullern fehlen.“

      „Das sind ja lustige Ansichten“, bemerkte die Mutter. „Dann müsste auch unter den Haaren auf dem Kopf bei den meisten Leuten etwas fehlen.“

      „Vielleicht Gehirn?“, mutmaßte der Sohn.

      Dieser Annahme und jener von den eventuellen Vorzügen der Scheitelplatte des Vaters vermochte Frau Dagmar wenig entgegenzusetzen.

      Etwas beunruhigt über Guidos Frühinformiertheit beobachtete sie ihn diskret bei seinem „Tagwerk“. Neben bunten, bizarren Malereien beschäftigte er sich damit, im Sandkasten Tunnel für Eidechsen zu graben und einen Swimmingpool für zwei Laubfrösche, deren Wetterprognosen er allerdings durch eifriges Begießen beeinträchtigte. Gern fuhr er mit dem Dreirad an Beerensträuchern entlang, um Grün-Weiß-Rot zu ernten. Besonders liebte er den Zauber des Winkels. Indem er über Stühle, Pfähle und Gezweig alte Decken spannte, schuf er Räume im Raum, geheimnisvolle Séparées, in denen er stundenlang hocken und sich im Verborgenen geborgen fühlen konnte.

      Nur Annette durfte ihn in den Höhlen besuchen, während sie sonst meistens seine Partnerin in der Dreschschule, im Kaufmannsladen oder in „Himmel und Hölle“ war. Wenn sie Vater und Mutter miteinander mimten, verlangte der Junge merkwürdigerweise oft nach der Frauenrolle und den „väterlichen“ Zärtlichkeiten des schwarzhaarigen Mädchens.

      Über allen Spielen stand jedoch das Doktorspiel. Innerhalb von zwei Stunden bekam Annette mindestens ein Dutzend Krankheiten, Knochenbrüche oder Verwundungen, die Guido gewissenhaft untersuchte und heilte. Er beklebte die Patientin kreuz und quer mit Pflaster, kurierte Blutvergiftungen mit Brausepulver, Kopfweh mit Bonbontabletten und die Masern mit Vasenolpulver. Zu den Höhepunkten der ärztlichen Universalbehandlung gehörten Zahnziehen, „Beißerchenbohren“ und beherzte chirurgische Schnitte über der Magengrube. Als die Freundin einmal eine Medizin gegen Bauchschmerzen verlangte, hielt der kleine Praktiker eine gründliche Inspektion unterhalb der Gürtellinie für erforderlich. Er musste einmal nachschauen, wo gemäß mütterlicher Auskunft die kleinen Kinder herauskamen. Behutsam betastete er die Weichteile zwischen Nabel und Steißbein, betrachtete interessiert die Leistenbeuge und stellte schließlich fest: „Ach, herrje, du hast ja zwei Pos. Wie lütt müssen Babys sein, die da rauskriechen können.“ Um der armen Kranken Linderung zu verschaffen, verordnete er ihr ein Klistier, was freilich nicht ohne Folgen blieb.

      Am nächsten Vormittag erblickte Dr. Möglich das runde, schnurrbärtige Gesicht von Annettes Vater im Wartezimmer. „Hallo, Herr Nachbar“, sagte er, „was macht die Puste?“

      Alban Holdheimer fühlte sich durch die gewohnte Anrede erleichtert, obwohl sie ihm die Sondermission vermutlich erschwerte. Schon seit Langem befand er sich in ärztlicher Behandlung wegen seiner Asthma-Anfälle, aber der Doktor (mit Routineuntersuchungen beschäftigt) verbreitete wieder einmal Optimismus: Gewiss kenne man heutzutage ungefähr zehntausend verschiedene Krankheiten oder Syndrome, doch infolge des wissenschaftlichen Fortschritts stürben die Leiden gleichsam schneller als die Leidenden. Selam für Methusalem! Ob man es denn vor hundert Jahren für möglich gehalten hätte, dass Epidemien wie Pocken, Cholera und Pest aus Europa verschwinden und bisher tödliche Mangelerscheinungen durch künstliche Insulin- oder Hormongaben behoben werden könnten? Na also! Ein bisschen Asthma bedeute an der medizinischen Front keinerlei Gefahr, da eine simple Adrenalinspritze zur Abwehr genüge.

      „Dennoch pfiff ich gestern beinahe aus dem letzten Loch“, bemerkte der Nachbar.

      Theo Möglich nahm die Goldrahmenbrille ab, wodurch seine hohe Stirn noch höher wirkte, und erklärte: „Dann müssen wir ein neues Allergen annehmen. Vielleicht auch ein Konfliktchen? Hoffentlich klappt es mit dem werten Liebesleben?“ „Auwei!“, fiepte Herr Holdheimer. Er legte den Kopf auf die rechte Schulter und sah momentan in seinem schwarzen Anzug wie ein melancholischer Geiger aus. Ein Weilchen überlegte er, ob er die Frage beantworten oder ausweichend über Guidos „unzüchtige Handlungen“ reden sollte. Am Ende rückte er näher an den Ordinationstisch heran und begann ein Gespräch unter Männern.

      In der Tat gebe es gewisse Schwierigkeiten. Zwar wolle er sich nicht beklagen oder gar einen Zusammenhang zwischen Kalamität und Atemnot konstruieren, aber bekümmern tät ihn schon etwas. Mit seinem Weib wär’s im Ganzen recht nett, sie erfülle ihre Pflichten im Haus und Geschäft zur Zufriedenheit, wenngleich im Bett, sozusagen, nur anstandshalber. Freilich habe sie das Nettchen geboren, worüber er narrisch glücklich sei, obwohl sie bei der Empfängnis dagelegen hätt wie ein Kriegerdenkmal. Und so treibe sie’s fort: Kein Funken Gefühl bei der Kopulation, sondern stets ein Duldermäskchen wie die Heilige Jungfrau persönlich. Manchmal glaube er, das müsste ein Scheidungsgrund sein.

      „Oha“, sagte Dr. Möglich, „für Sie oder Ihre Gattin? Wie benehmen Sie sich denn beim erotischen Hoppelpoppel? Immer Schnellbüffet, ja? Dachte ich’s mir doch, lieber Herr Holdheimer. Haben Sie schon mal überlegt, wie eine unzerkaut geschluckte Praline schmecken würde? Und Sie muten Ihrer armen Frau ständig zu, sie solle gewissermaßen an injizierter Nascherei Geschmack finden. Offenbar muss ich einem Delikatesswarenhändler eine Genießerlektion erteilen.“

      „Ist’s wahr?!“, rief der Nachbar. Angesichts der eigenen beschämenden Unerfahrenheit erschien ihm seine „Sondermission“ samt beabsichtigtem Protest gegen den libidinösen Forschungseifer von Herrn Doktors Sprössling plötzlich recht läppisch.

      Unterdessen dozierte der Arzt über die Wissenschaft vom bekömmlichen Liebesakt. Schon die alten Inder hätten, aufs Wort, vierundsechzig vergnügliche Positionen, Variationen und Spiele gekannt und dabei ein feines Empfinden für das zulängliche Zeitmaß bewiesen. Besonders gefalle ihm ein Vergleich, demzufolge wollüstige Bewegung ebenso langsam beginnen und sich allmählich beschleunigen solle wie Töpferscheibe, Kreisel oder Schaukel. Zur Ehe-Gymnastik seien Fantasie und Kunst vonnöten wie zum harmonischen Leben überhaupt.

      „Harmonie? Gibt’s die denn noch?“, fragte Alban Holdheimer und entschloss sich dazu, das Zwiegespräch auszuweiten. „Wissen Sie, in der Liebe wird mir Ihr Rezept vielleicht helfen, schönen Dank, doch wie begegne ich der politischen Not, die mir Atemnot schafft? Ich fürchte, es geht nicht gut aus in Deutschland.“

      „Man muss den Glauben an die Kraft der Humanität bewahren“, erklärte Dr. Möglich. „In der medizinischen Praxis bedienen wir uns des Placebo-Effekts, wobei sich zeigt, dass vierzig Prozent aller Patienten auf eine harmlose Zuckerpille genauso reagieren wie auf eine echte Droge. Auf Vertrauen kommt es an.“

      Der Nachbar schüttelte den Kopf. „Ich wage nicht mehr, viel zu hoffen. Überall Drohung, Hass und Gewalttätigkeit. Verstehen Sie das? Als ob wir Juden nicht immer gute Deutsche gewesen wären! Und nun wollen die Schowis berühmte Gelehrte und Künstler, die zum deutschen Ansehen beitrugen, ansehen wie Parasiten.“

      „Im Paradies blieb es bisher ruhig, lieber Herr Holdheimer.“

      „Ja, gewiss. Aber was sind das für Sachen, die uns die Zeitungen täglich offerieren: Fememorde, geheime Aufrüstung, Gerangel an der Regierungsbank und das Gerede von der miserablen Rasse. Dazu ökonomischer Schlamassel, der einen Geschäftsmann zwackt wie Rheumatismus. Darf’s das geben in einem zivilisierten Establishment? Mir ist das unheimlich, lieber Doktor. Und wenn dieser Ahi an die Macht gelangt, denk ich, dann gnade uns Gott.“

      Theo Möglich blätterte im Arzneibuch, als der Besucher leise hinzufügte: „Warum leben wir nur in einer derart schlimmen Zeit?“

      „Um zu überleben, mein