Die Weltzeituhr. Eberhard Hilscher

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Название Die Weltzeituhr
Автор произведения Eberhard Hilscher
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954629589



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entblättert sich. Die Keimlamelle signalisiert: situs inversus totalis. Bald darauf nimmt sie Sandalenform an, dreht sich um die Längsachse und schwebt bäuchlings in gläserner Amnionhülle. Am Ende des ersten Monats scheint das herzpochende Vier-Millimeter-Wesen Schwanz und Kiemen auszubilden, weshalb es in finsteren Zeiten nicht genau wusste, ob aus ihm Haifisch, Feuersalamander, Igel oder Affe werden sollte. Aber gegenwärtig zweifelt es (trotz raupenartiger Krümmung, die ihm Magen und Darm verdrillt) keinen Augenblick an seiner höheren Bestimmung. In der siebenten Woche vermag es, seine Personalität durch unverwechselbare Fingerabdrücke auszuweisen. Zwanzig Tage später definiert es sich mittels elften Fingers als Männlein, das seine junge Menschlichkeit kundtut, indem es Fäuste ballt und Mamas Innendekoration anpinkelt. Die schönste Zeit verbringt der Fetus, dem der Name Guido zugedacht ist, im fünften und sechsten Entwicklungsmonat. Durch Haarflaum und aromatische Firniscreme geschützt, turnt er schwerelos in der Unterwasserstation des Fruchtsacks, vollführt Saltos, Bauchwellen um die Nabelschnur, Hand- und Kopfstand. Bisweilen nuckelt er am Daumen oder bohrt im Po. Obwohl die feuchtwarme Taucherglocke ständig durchspült wird, ertrinkt er nicht, weil ihn der Sauerstoff-Inhalator der Plazenta reichlich versorgt. Interessiert beobachtet er seine kybernetischen Körpersysteme. Als er nach vierteljährigem Lidverschluss endlich wieder die Augen öffnen kann, hindert ihn feindliche Dunkelheit daran, die rote Brutkammer zu betrachten. Schade, denn transparente Häute ermöglichten ihm sonst einen fabelhaften Röntgenblick auf mütterliche und eigene Eingeweide. Nun vertreibt er sich die Zeit, indem er auf karikaturistisch dünnen Beinchen durch die Geburtsarena dribbelt und sich selbst lautlos applaudiert. Geheimnisvolle Vibrationen im Zwerchfellhimmel der Madonna offenbaren ihm das gleichzeitige Wachstum einer krummnasigen, plattfüßigen Zukunftsgefährtin, worauf er den Schicksalsschicker um Genreparatur oder ein stellvertretendes Brandmal bittet.

      Allmählich spürt Klein Guido, dass er wie Blaualgen aufquillt und in räumliche Bedrängnis gerät. Vom Scheitel seines überdimensionalen Quadratschädels bis zur noch unverkästen Fußsohle misst er jetzt fünfundvierzig unrelativierte Zentimeter. Nachdem er vergeblich die Ellbogen gebraucht hat, um sich erneut Bewegungsfreiheit zu verschaffen, bleibt er schließlich koppheister im nachtschwarzen Uterustunnel stecken. Gefasst nimmt er die Lotos-Yogastellung ein und träumt von exzellenter Anwartschaft.

      Plötzlich scheint es ihm, als seien ungeahnte Teufel los. Die Wände beginnen zu wackeln. Von allen Seiten fühlt er sich eingekeilt, gezerrt, gedehnt. Unsichtbare Gewalten schieben seinen Kopf wie zur Strangulation in den Halsring der Gebärmutter hinein. In angstvoller Wut möchte er schreien, aber das Bernsteinwasser des Amnions füllt knebelgleich seinen Mund. Auf Guidos Drei-Kilo-Körperchen schieben sich immer schwerere Bürden: Dreißig Kilo, vierzig Kilo, fünfundvierzig, sechsundvierzig (nicht mal beim Übergang zur zweiten kosmischen Geschwindigkeit braucht man sein zwanzigfaches Gewicht zu tragen), neunundvierzig, fünfzig Kilo … Anhalten! Aufhören! Gibt es denn gar keine Luke in dieser verdammten Gondel? Oh, könnte er als linksgewundene Kegelschnecke ins Freie kriechen und selbstschöpferisch König sein!

      Er dreht sich. Vor Eintritt der Bewusstlosigkeit wird das verdrehte Menschlein buchstäblich ausgestoßen.

      Der Doktor hebt es in die helle Höhe, findet es leblos und kümmert sich zunächst um die schwach atmende Mutter, die er liebt. Da tritt unhörbar der blaue Reiter in den Raum und nimmt das Kind in den Arm.

       Zeitansage, 1. Jahr

      29. Februar: Während dem praktischen Arzt und Geburtshelfer Dr. Theo Möglich in Paradies bei mittäglichem Glockengebimmel ein Sohn geboren wurde, orgelte der Vesuv und warf glühenden Dreck in Richtung des Golfes von Neapel. Synchron spießten die Zeiger auf dem Berliner Rathausturm eine goldene Zwölf auf, in den Zwiebelköpfen des Heiligen Basilius zu Moskau schlug es vierzehn, die No-Spieler von Tokio umtanzten zwanzig Magnolienblüten, und im New Yorker Singer-Building schnarchte der Sechs-Uhr-Wecker. Gleichzeitig wetteiferten im Nordischen Institut drei Atomphysiker miteinander, jeweils aus einem einzigen Auge wie schläfrige Krokodile die Mikrowelt anzuglotzen, weil sich nur auf diese Weise Ort und Impuls flitzender Strahlenstäubchen messen ließen. Konzentrierter Doppelblick hingegen ergab Unklarheit. – Auf der hauptstädtischen Rennstrecke startete unterdessen ein torpedoförmiges, geflügeltes Spezialauto, aus dessen Heck wie gebündelte Räucheraale zwei Dutzend Düsenstäbe herausragten. Nachdem der Steuermann die Rakete gezündet hatte, raste der Kraftwagen aus einer Dampf- und Gestankwolke auf die Zwei-Kilometer-Zielscheibe zu, an der er ein Rekordtempo von 230 km/h erreichte; außerdem einen Rekord der Betriebskosten, dreitausendmal über normal liegend. Dennoch halten es Experten für möglich, dass heute die Fortbewegungsart der Zukunft erprobt wurde.

       Unschärferelationen

      Zur Freude der Eltern benahm sich der Säugling korrekt und gemäß den Lehrbüchern in der väterlichen Bibliothek. Rund um die Uhr verpennte er zwanzig Stunden. Sobald er erwachte, protestierte er (tränenlos weinend) gegen sein Geworfensein in das Diesseits, bis er sich mit Klimmzug an eine heranflatternde Hand schmiegen konnte: Fabelhafter urmenschlicher Klammerreflex, erstaunlicher Fußgreifeffekt! Nun hüpfte der Knabe, zwischen dessen Schultern ein bienengroßes Muttermal prangte, wassertretend im emaillierten Heimteich oder züngelte hingebungsvoll an mütterlichen Papillen. Ein paar Tage lang sabberte aus seiner eigenen Brust etwas Milch, ohne ihn zum Selbstversorgertum anzuregen. Bisweilen gewann er den Trost traumloser Deltawellen, indem er aus der Daumenpraline Lethe lutschte und reibungsenergetischen Schotengeruch genoss.

      In der siebenten Existenzwoche erfreute er seine Eltern durch eine tägliche Stimmband-Kräftigungsstunde. Das bescherte ihm die Erfahrung der Allmacht, denn infolge seines Geschreis belebte sich der halbmeterhohe, glockenförmige, schielend betrachtete Hohlraum über ihm. Saxofonähnlich quäkend schuf das Baby Gestalten. Wie fünffingrige Seesterne, Melonenquallen oder schnurrbärtige Riesenmuschelkrebse kamen Körperglieder angeschwommen, dazu das Lächeln, Küsse, das Streicheln und Laute verschiedener Tonfrequenz. Mit starkem Krakeelen konnte er Dinge beschwören und festhalten.

      Bei Lustfahrten im Korbwägelchen (Vollballonreifen, Durchschnittsgeschwindigkeit 1 m/sec.) entdeckte Klein Guido, wie er seine mobilen Teile in den Bühnenhimmel zu schieben vermochte. Amüsiert betastete er seine Rumpfanhänge, Hände, Finger, Füße und Zehen, die sich selbständig zu machen schienen, ohne dass voraussehbar war, wann es wo strampeln, zucken und rucken würde. Obwohl der Junge unaufhörlich zappelte, ließen sich Lokalität, Wahrscheinlichkeit eines Impulses und Häufigkeitsverhältnis im Bewegungschaos nicht gleichzeitig bestimmen.

      Manchmal nahm ihn die Mutter zu sich ins Bett, um ihm das Gefühl der Geborgenheit zu geben. Dort geschah eines Tages im Halbschlummer, was Martin Luther im Hohen Liede trefflich dolmetschte: „Er steckte seine Hand durchs Loch, und ihr Leib zitterte dafür.“ Als Frau Dagmar es ihrem Mann erzählte, lobte er lachend die ersten Anzeichen genialer Empfindungsart. Sie antwortete: „Wünsche es nicht! Auf Wunderkinder wartet meistens ein früher Tod.“

       Zeitansage, 1. Jahr (Fortsetzung)

      27. August: Die Metropole der Mode erwies sich an diesem Tage auch als Hauptstadt globaler Diplomatie. „Ewiger Friede“, sagten die Leute am Quai d’Orsay. Nachdem sie den Obelisken des furiosen Ramses gestreichelt und die Concorde-Brücke überschwemmt hatten, jubelten Knickerbocker-Herrchen und bubikopffrisierte Damen in knabenschlanker Garçon-Fashion den Politik-Harmonikern zu, die über eine Freitreppe ins Außenministerium trippelten. Die Silbermine des Pariser Regierungsthermometers kroch gerade bis zum 32. Querstrich der Celsiusskala empor. Punkt fünfzehn Uhr westeuropäischer Zeit versammelten sich die Ressort-Chefs im historischen Horloge-Saal, nahmen am hufeisenförmigen Tisch Platz und bewunderten die Vertragsmappe. Exzellent! Da lag ein typografisches Meisterwerk, auf vier handgeschöpfte Büttenseiten gedruckt und in goldverziertes Saffianleder gebunden. Während der französische Gastgeber die erfolgreiche Bemühung um internationale Aussöhnung pries, tropfte den Repräsentanten der Welt viel Schweiß in Cut und Zylinder, denn von Decken und Wänden strahlten