Boat People. Sharon Bala

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Название Boat People
Автор произведения Sharon Bala
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114441



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      Grace zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg barfuß aus, die Pumps baumelten an ihren Fingern. Kumi, eine Hand schützend über die Augen gelegt, stand in der Haustür und blinzelte missmutig in die Sonne. Für einen kurzen Moment glaubte Grace, ihre Mutter habe neugierig auf ihre Rückkehr und ihren Bericht über den neuen Job gewartet. Mit freudig erhobener Hand winkte sie ihr zu. Hallo Mom, wie geht’s?

      Doch als sie zur Tür kam, wollte Kumi nur wissen, wo der Karton mit den Urkunden und Kontoauszügen war. Wo ist der Karton?

      Im Hausflur stand eine große Obstschale, in der Kumis verlegte Besitztümer gesammelt wurden: Lesebrille, Armbanduhr, ihr Notfallarmband, eine im Kühlschrank verlegte Haarbürste. Heute war die Schale leer. Kumi hatte einen guten Tag.

      Auf dem Karton war noch das rote Klebeband, redete Kumi weiter, machte die Haustür zu und lief ihrer Tochter hinterher ins Haus. Die ganze Dachkammer habe ich in der letzten halben Stunde durchsucht.

      Vor einigen Jahren hatte Kumi eines Morgens vor dem Spiegel gestanden und ihr eigenes Gesicht nicht erkannt. Die Diagnose kam schnell: Alzheimer, zweites Stadium. Nachdem sie im April einen Toaster in Brand gesetzt hatte, ließ sie sich endlich überreden, ihr Apartment aufzugeben und bei Grace einzuziehen. In der Dachkammer wurden Kumis alte Kartons aufbewahrt – Milchkisten vollgestopft mit Fotoalben, Überseekoffer mit Aktenordnern, Sachen, die jahrzehntelang aufgehoben und nicht berührt worden waren. Die Mutter hatte die Berge bestimmt nur kurz überblickt und war, als sie das Auto in der Auffahrt hörte, mit streitbar auf die Hüften gepressten Händen nach unten gekommen.

      Der Karton muss da oben sein, sagte Grace, bückte sich und hob ein Paar Straßenschuhe von Steve auf, die auf dem Teppich herumlagen.

      Und weißt du, was deine Töchter die ganze Zeit getrieben haben? Kumi verfolgte Grace auf Schritt und Tritt. Videospiele!

      Die Mädchen saßen auf dem Fußboden, einen knappen Meter vor dem Flachbildschirm an der Wand. Sie starrten nach oben wie Bittsteller zum Altar. Auf dem Bildschirm raste ein zweidimensionaler Mann wild durch die Straßen von New York, während ein Polizist mit der Pistole auf seine Autoreifen zielte. Die Mädchen umklammerten ihre Gamecontroller und trommelten mit den Daumen auf den Knöpfen herum.

      Meg riss die linke Schulter hoch. Nein, nein, nein!, kreischte sie. Idiot!

      Der Polizist rammte rückwärts in eine Backsteinmauer und flog mitsamt Auto in einem roten Feuerball durch die Luft.

      Oh! Brianne schnippte mit dem Zeigefinger in Richtung Bildschirm. Dich hat’s ewischt!

      Grace klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Küchentresen. Und das habt ihr beiden den ganzen Tag so getrieben?

      Meg antwortete mit einem lässigen Wedeln der Finger. Brianne schnaubte nur. Sie wandten sich nicht um.

      Grace sah die Pferdeschwänze der beiden Mädchen und ihre dünnen Halswirbel, die sich wie zwei knubbelig nach unten laufende Linien auf ihren Rücken abzeichneten. Sie hängte ihre Kostümjacke über einen Stuhl. Kommt her und helft mir beim Abendessen, sagte sie.

      Brianne beugte sich nach vorn und zog mit dem linken Daumen am Joystick. Nachher, sagte sie.

      Was entweder bedeutete: wenn wir mit dem Spiel hier fertig sind, oder: fünf Minuten nach überhaupt nicht.

      Die haben nichts Besseres zu tun? Kumi schwirrte wie eine lästige Fliege um Grace herum.

      Auf dem Tresen in der Mitte der Küche lag eine Box mit süßem Knabberzeug, daneben eine leere Milchpackung mit offenem Ausguss.

      Morgen kommt die Reinigungskraft, rief Grace in Richtung Fernseher, habt ihr euer Zimmer aufgeräumt?

      JA!, kreischte Meg.

      Toll, sagte Brianne.

      Grace schnürte sich eine Schürze um und wischte den Tresen ab. Sie war sich nicht sicher, ob diese beiden Reaktionen die Antwort auf ihre Frage waren.

      Kinder brauchen Grenzen, sagte Kumi. Und Verantwortung. Du musst ihnen eine nützliche …

      Wozu brauchst du diese alten Kisten?, fragte Grace und machte dabei den Kühlschrank auf.

      Die Hauptbücher und die Kontobücher, sagte Kumi. Ich will wissen, wie viel das Geschäft wert war.

      Grace wühlte im Gemüsefach. Welches Geschäft?

      Was meinst du, welches Geschäft? Das Familiengeschäft! Das Geschäft deiner Großeltern!

      Graces Großeltern hatten vor dem Krieg einen Waschsalon gehabt. Als Kind hatte Grace Klavierunterricht von einer Frau in Gastown bekommen. Jedes Mal wenn sie die Powell Street entlangfuhren, hatte Kumi auf ein nichtssagendes Gebäude gezeigt und gesagt: Das hat uns gehört, ehe die Regierung es uns gestohlen hat. Und Aiko, Graces Großmutter, widersprach ihr mit sanfter Stimme: Nein, nein. Wie viel Gutes dieses Land doch für uns getan hat.

      Grace hockte vor dem Kühlschrank und sah zu ihrer Mutter hoch, die hinter der Tür halb verdeckt war. Mal ganz langsam, sagte sie. Das Geschäft gibt es nicht mehr, Mom. Schon lange nicht mehr.

      Ja, ja, sagte Kumi. Aber die Kontobücher. Die haben wir noch.

      Wirklich?

      Na klar, sagte Kumi. Dicke Bücher, in denen jede Transaktion verzeichnet ist. Wir hatten immer gute Kunden, und auch nicht nur Japaner. Sie sprach und lief dabei hin und her, und Grace musste in dieser kleinen Küche um sie herumtanzen, um zum Spülbecken zu kommen. Denk doch mal, wie viel das Geschäft wert wäre, wenn wir es heute verkaufen würden, sagte Kumi und legte den Zeigefinger auf den Daumen. Und der Wert des Grundstücks! Das Land hat uns gehört! Wir haben doch den Grundbuchauszug und können das beweisen.

      Mom. Grace legte ihrer Mutter die Hände auf die Schultern. Pass auf.

      Es war für Kumi nicht ungefährlich, gleichzeitig zu laufen und zu reden. Wenn sie sich über etwas aufregte, vergaß sie oft alle Vorsicht.

      Kumi verzog das Gesicht, aber sie blieb stehen. Sie hielt sich am Tresen fest und sagte: Zufrieden?

      Danke. Grace ging zur Spüle. Sie fragte sich, woher denn dieses plötzliche Interesse gekommen war. Ihre Großmutter hatte, als sie noch am Leben war, nie über den Krieg gesprochen, auch nicht über ihr Leben davor. Auch ihre Mutter hatte, außer ein paar gelegentlichen Nörgeleien an der Powell Street, nie davon gesprochen.

      Grace werkelte unter dem fließenden Wasser und sagte laut: Du machst dir unnötig Gedanken. Das Land gehört jetzt jemand anderem.

      An der Powell Street standen jetzt Kleinbrauereien und Kaffeeröstereien, moderne Apartments und bezahlbare Sozialwohnungen. Keine Spur mehr von der japanischen Gemeinde, die einst hier geblüht hatte.

      Es geht ums Prinzip, sagte Kumi.

      Der Fernseher ging aus und die Mädchen kamen hereingepoltert. Grace wies auf den Geschirrspüler und sagte: Bitte ausräumen. Zu ihrer Mutter sagte sie: Lass das mal. Das bringt nichts.

      War es Langeweile?, überlegte sie. Der Alzheimer hatte Kumi alle ihre Lieblingsbeschäftigungen gestohlen – Kreuzworträtsel, Sudoku, Stricken –, und wenn sie las, konnte sie nur noch den anspruchslosen Plots in mittelmäßigen Romanen folgen.

      Meg riss den Geschirrspüler auf, der sich mit einer wuchtigen Heißluftwolke entlud. Die Zwillinge waren schon immer sehr klein gewesen, kaum sechs Pfund bei der Geburt, und in der Grundschule immer die Kleinsten. Aber in den letzten sechs Monaten hatten sie sich gestreckt. Sie waren jetzt groß und langgliedrig und hatten ihre zusätzlichen fünfzehn Zentimeter noch nicht richtig unter Kontrolle. Sie schritten aufreizend langsam zwischen Geschirrspüler und Küchenschränken hin und her, immer nur mit einem Teller, und leerten die beiden Spülkörbe so umständlich wie nur möglich.

      Wie war euer Tag heute?, fragte Grace.

      Schön.

      Habt ihr irgendwas gemacht? Und nicht nur vor dem Fernseher gehockt?

      Wir waren draußen, sagte Brianne.