Boat People. Sharon Bala

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Название Boat People
Автор произведения Sharon Bala
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114441



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angeben sollte. Sie müssen schon Geduld haben, hatte er seinen Klienten vor einer Woche gesagt. Und zu Priya: Meine Fälle sind gewöhnlich in ein paar Monaten abgewickelt. Aber wenn so viele Leute auf einmal kommen? Und wenn der politische Wille gegen sie ist?

      Wie lange dann?, wollte Priya wissen.

      Jahre, räumte er ein. Es könnten Jahre werden. Woraufhin sie erleichtert spekulierte, dass er wohl nicht von ihr erwarten würde, bis zum Ende ihres Praktikums hier mitzumachen. Wenn ihre Klienten aus der Verwahrung entlassen werden, glaubte sie, würde auch sie wieder frei sein.

      Jetzt sagte sie zu Charlie: Wenn diese Anhörungen heute zu unseren Gunsten ausgehen, könnten sie Ende nächster Woche raus sein.

      Nicht zu früh jubeln, warf Gigovaz düster ein, faltete die Zeitung zusammen und schlug sich damit auf den Oberschenkel.

      Priya verzog das Gesicht, noch ehe sie gewahr wurde, dass Charlie sie beobachtete. Es war typisch für Gigovaz, ihr erst das Reden zu überlassen und sie dann bloßzustellen, wenn sie sich vertan hatte.

      Das Verfahren verläuft typischerweise so, erklärte er Charlie und kehrte Priya den Rücken zu: Sagen wir mal, Sie kommen als Flüchtling am Flughafen an. Als Erstes brauchen Sie eine Genehmigung, Asyl zu beantragen. Das nennt man Zulassungsfähigkeit, und die wird gewöhnlich routinemäßig abgestempelt. Gewöhnlich. Wenn Sie kein bekannter Krimineller sind, oder nicht schon einmal abgeschoben wurden, dann entscheidet jemand an der Grenze – Einwanderungsbehörde oder Grenzschutz –, dass Sie Asyl beantragen können. Das dauert ein paar Stunden, in einigen Fällen ein paar Wochen. Während dieser Zeit wird Ihre Zulassungsfähigkeit überprüft und Sie sind, gewöhnlich, auf freiem Fuß.

      Die richtige Hürde, sagte Gigovaz, kommt Monate später bei den Anhörungen durch die Flüchtlingskommission. Zwei oder drei Entscheider quetschen die Antragsteller nach jedem, auch dem geringsten Detail ihrer Story aus. Dieses Gremium trifft die letzte Entscheidung.

      Über den unbefristeten Aufenthaltstitel, sagte Charlie und nickte verständnisvoll.

      Der unbefristete Aufenthaltstitel. Gigovaz streckte einen Arm nach oben und griff in die Luft. Der hängt da oben.

      Bist du hier geboren?, fragte Charlie. Priya nickte und Charlie fuhr fort: Wir sind gekommen, als ich drei war. Als Einwanderer. Wir hatten Glück. Sie wandte sich Gigovaz zu: Sie sagen immer gewöhnlich.

      Gigovaz zog sich am Ohr und ließ langsam die Luft ab. Mehr als fünfhundert Antragsteller, und die Regierung drängt auf Abschiebung. Wir müssen Argumente für die Zulassungsfähigkeit beibringen, was nicht die Norm ist, nein gar nicht. Und bei so vielen Fällen, wie wir sie heute durchboxen müssen, um die Leute allererst aus der Sicherungshaft zu holen, wird es Monate dauern, bis wir Termine für die Anhörungen zur Zulassungsfähigkeit bekommen.

      Ihr erstes Ziel ist es, die Leute aus dem Knast herauszubekommen?, fragte Charlie.

      Nicht unbedingt, sagte Gigovaz. Die können immer noch in Sicherungshaft sein, wenn die Zulassungsanhörungen anfangen. Das ist schon passiert.

      Sondierung der Häftlinge, Überprüfung der jeweiligen Zulassungsfähigkeit, dann die eigentlichen Zulassungsanhörungen bei der Flüchtlingskommission: eine lange Reihe von Entscheidungen, und jede davon mit dem Potenzial für Absage und Abschiebung. Priya hatte Charlies Worte noch im Ohr: Wir hatten Glück. In einem Anflug von Hoffnungslosigkeit, und für den Bruchteil einer Sekunde, tat auch Gigovaz ihr leid, dass es sein Beruf war, durch diesen juristischen Morast waten zu müssen.

      Gigovaz deutete auf die Zeitung, die er gelesen hatte – Priya sah in der Überschrift die Wörter illegal und Schiff – und sagte: Achten Sie darauf, was die Presse daraus macht. Souveränität? Blair hat den Grenzschutz instruiert, uns im Namen der öffentlichen Sicherheit mit allen möglichen Scheinargumenten zu traktieren.

      Gigovaz hatte Priya beauftragt, die relevanten Artikel aus den Zeitungen auszuschneiden. Sie hasste diese Arbeit. Reporter, die keine Ahnung von den Gesetzen hatten, und schlimmer noch das Online-Getwitter. Allein beim Anblick von Fred Blair – wie er die Augen verdrehte und finster stierte, wenn er verkündete: Irgendwo muss die Grenze gezogen werden – ballte sie die Faust. Zwanzig Jahre Zollhausinspektor, und jetzt hält er sich für den obersten Hüter der öffentlichen Sicherheit.

      Aber die Einwanderungsbehörde ist ein unabhängiges Amt. Es ist nicht die Regierung. Es handelt im Rahmen des Gesetzes, und seine Beamten treffen die Entscheidungen. Priya konnte Gigovaz’ Zynismus nicht teilen.

      Diese ganze Angelegenheit ist zur Nebenvorstellung geworden, sagte Gigovaz. Blair zieht das alles so lange wie nur möglich hinaus.

      Wissen die denn nicht, sagte Charlie, wie traumatisch Gefängnishaft ist? Posttraumatisches Belastungssyndrom, Depression …

      Wir werden die psychologischen Gutachten als mildernde Faktoren beibringen, sagte Gigovaz. Aber ob Mitgefühl beim Urteil der Entscheider eine Rolle spielt, das bleibt dahingestellt.

      Wo werden sie nach ihrer Entlassung unterkommen?, fragte Priya.

      Einige haben Verwandte hier, meistens in Toronto, sagte Charlie, die immer noch finster dreinschaute. Wir versuchen, sie in Pensionen unterzubringen. Und es gibt Leute, die ihnen separate Zimmer in ihren Kellerwohnungen zur Verfügung stellen. Außerdem haben Flüchtlinge auch Anspruch auf finanzielle Unterstützung, aber die reicht nicht aus, um einigermaßen durchzukommen, nicht in Vancouver.

      Priya fühlte sich von all dem zutiefst beschämt, von dem guten Willen und der Solidarität so vieler Menschen, die bereit waren, Fremde aufzunehmen, und das aus einem Gefühl der, was … ­ethnischen Zusammengehörigkeit? … der Diaspora?

      Charlie zeigte auf die Drehtür. Da kommen sie.

      Voran die beiden Frauen in identischem Outfit und nummerierten Sportschuhen. Priya hatte sie vor einer Woche im Gefängnis in Burnaby gesehen.

      Savitri Kumuran war einunddreißig Jahre alt, eine Witwe und Mutter von zwei toten Kindern in Sri Lanka und einem sechsjährigen Sohn, der bei ihr war. Bei ihrem Interview mit Gigovaz war sie ruhig geblieben, hatte klare Antworten gegeben. Sie und ihr Mann hatten einen Juwelierladen in Sri Lanka. Zu Hause, sagte sie verträumt. Damals zu Hause.

      Aber danach hatte Gigovaz Priya erklärt: Diese Frau ist depressiv. Wenn wir sie nicht bald hier herausbekommen, ist sie am Ende.

      Heute war ihr dichtes Haar im Nacken zu einem langen Zopf zusammengeflochten, der in schweren Wellen den Rücken herunterhing. Ihre Haut war für eine Tamilin überraschend hell, und mit den hohen Wangenknochen und dem Grübchen im Kinn war sie eine natürliche Schönheit. Sie hielt eine Hand ausgebreitet am unteren Rand des Halses. Priya betrachtete ihren leeren, gequälten Gesichtsausdruck und dachte: Diese Frau ist zwei Jahre älter als ich.

      Die zweite Frau war Hema Sokolingham. Sie war achtunddreißig und ebenfalls Witwe. Nervös und verängstigt hatte sie während ihrer ersten Befragung Gigovaz’ Augen gemieden und ihre Antworten an Priya und Charlie gerichtet. Sie war mit ihren zwei Töchtern nach Kanada gekommen. Diese beiden, wie auch die anderen Minderjährigen, blieben von den Befragungen und Anhörungen verschont.

      Wie steht es mit Hema?, hatte Priya gefragt. Wie sind ihre Aussichten?

      Aber Gigovaz sagte nur achselzuckend: Da ist etwas, was sie uns nicht sagen will.

      Charlie beugte sich vor und flüsterte: Siehst du das? Die sind angekettet wie Sklaven.

      Sind die Fesseln nötig?, fragte Gigovaz den Wachtposten.

      Als ihr die Handschellen abgenommen wurden, massierte Hema sich die Gelenke. Thank you, sagte sie sehr leise auf Englisch. Ihr Haar hing in einem langen Zopf den Rücken herunter; sie hatte schiefe Zähne.

      Charlie strich Hema über den Arm und fragte auf Tamil: Nalamaa? Wie geht’s?

      Dann kamen die Männer: Prasad, Mahindan und Ranga, alle – auf Gigovaz’ Geheiß – glattrasiert. Ein dunkelhäutiger Mann mit Bart, der um Asyl bettelt? Nicht unter meiner Regie.

      Das