Boat People. Sharon Bala

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Название Boat People
Автор произведения Sharon Bala
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114441



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      Das Zelt schwankte. Mahindan fuhr zusammen. Er schlug die Augen auf und spürte eine Hand an seinem Schultergelenk.

      Ein paar Rechtsanwälte sind gekommen, sagte Ranga.

      Mahindan setzte sich schnell auf. Sellian! Jetzt würden sie erfahren, wie es weitergeht. Er und seine Zimmergenossen folgten dem Wärter. Sie liefen hintereinander, Mahindan bildete den Schluss, vor ihm der hinkende Ranga.

      Mahindan versuchte, seine Träume ins Gedächtnis zurückzurufen. Es kamen vage Bilder, eher gefühlt als gesehen, und es überraschte ihn, dass er einige als angenehm empfand. Es waren Erscheinungen von blauer Seidenstickerei, von purpurnen Fäden, vom weiblichen Duft von Sandelholz.

      Über ihnen hing ein schwarzes Schild mit roten Lettern. Mahindan betrachtete die exotischen Buchstaben, geradlinig und eckig. Das war Kanada – sauber und ordentlich. Ein gutes Land für einen Neuanfang.

      Er bedauerte, seine Zelle mit Ranga teilen zu müssen, mit dieser Klette von einem Menschen, die sich ihm gleich am Anfang angeheftet hatte und einfach nicht abzuschütteln war. Aber das würde bald vorüber sein. Es war nur auf kurze Zeit, hatte die Schwester ja gesagt. Gut war hingegen, dass der Zeitungsmensch Englisch sprach. Mahindan konnte ein paar Worte von ihm aufgreifen, später würde er Englisch lernen, Arbeit bekommen, eine kleine Wohnung finden.

      Sellian war ein heller Kopf. In der Schule würden sie ihm Englisch beibringen und abends könnten sie zusammen üben. Mahindan griff instinktiv nach Sellians Hand, aber die war nicht da.

      Sie gingen auf drei Leute zu – einen großen weißen Mann und zwei dunkelhäutige Frauen. Die Rechtsanwälte. Eine Hoffnung leuchtete in ihm auf. Die konnten ihm bestimmt etwas über Sellian sagen.

      Eine der Frauen führte das Wort. Ihr Tamil war fließend und akzentfrei. Sie war die Dolmetscherin vom Tamilischen Bund. In Kanada leben tausende von Tamilen, erklärte sie ihnen. Hunderttausende. So viele Tamilen, dass sie ihre eigene Organisation gegründet haben, die sie offiziell vertritt. Was für ein Glück, dachte Mahindan. Er hätte einen Fahrschein ohne Rückfahrt irgendwohin gekauft, nur um aus diesem gottverlassenen Land herauszu­kommen, aber jetzt zu sehen, dass er an einen Ort gekommen war, wo so viele Landsleute von ihm lebten, das war der reinste Glücksfall.

      Die Dolmetscherin erklärte ihnen, dass Kanada von ihrem Schiff gewusst und es seit Wochen erwartet hatte. Die Ankunft war vorausgesagt worden. Mahindan sah darin ein günstiges Omen. Eine Gottheit hatte ihnen den Weg bereitet, hatte diese Tamilen in einem fremden Land dazu bewegt, ihnen zu helfen.

      Der Zeitungsmensch stellte sich ihnen vor als Prasad. Das war alles geplant?, fragte er, mit den Leuten in Sri Lanka, die unsere Schiffsreise arrangiert haben?

      Nein, sagte sie. Die Regierung hat das Schiff über ihr Satellitensystem entdeckt.

      Wozu brauchen wir Rechtsanwälte?, wollte Ranga wissen. Er saß etwas abseits von der Gruppe, schräg der Tür zugewandt, so als wollte er jeden Moment aufspringen und weglaufen.

      Das ist so, sagte die Dolmetscherin: Nach kanadischem Recht haben Sie keinerlei Status. Um hier bleiben zu dürfen, brauchen Sie zuallererst die Anerkennung als Flüchtlinge. Und das ist ein bisschen kompliziert.

      Aber wir sind doch Flüchtlinge, oder?, fragte Ranga. Was sollten wir sonst sein?

      Was denken sich diese Leute eigentlich?, ging es Mahindan durch den Kopf. Haben wir uns denn auf das klapprige Schiff gewagt und unser Leben aufs Spiel gesetzt, um irgendwo Ferien zu machen?

      Die Dolmetscherin sagte, dass das alles sehr kompliziert sei, weil es ja juristische Definitionen und bürokratische Vorschriften gebe. Aber sie sollten sich keine Sorgen machen, der Tamilische Bund hatte Rechtsanwälte angeheuert, die alles klarstellen würden. Mahindan sah, wie Prasad nickte, und das beruhigte ihn ein wenig. Natürlich würden sie Formulare ausfüllen müssen. Die Kanadier mussten ihre eigenen, speziellen Verfahren befolgen. Gott sei Dank hatten sie Rechtsanwälte, die sie durch die Formalitäten schleusen würden.

      Der große Mann hatte offensichtlich die Leitung. Mahindan konnte es an der Art und Weise erkennen, wie er lässig und breitbeinig dasaß, mit seinem ungekämmten grauen dünnen Haar, das nach allen Seiten abstand, und seinem Zweitagebart.

      Die andere Rechtsperson war eine jüngere Frau von Ende zwanzig, schätzte er. Sie saß kerzengerade und hochkonzentriert auf ihrem Stuhl, so als erwartete sie, jeden Moment aufspringen und etwas äußerst Kompliziertes ausführen zu müssen. Sie hatte gleich am Anfang oben auf ihrem Block etwas notiert und dann den Stift weiter bereitgehalten, so dass etwas Tinte aufs Papier auslief. ­Mahindan war enttäuscht, nicht seine vertraute Tamil-Schrift zu sehen.

      Er fragte nach Sellian und sah, wie die beiden Frauen etwas besprachen; er sah, wie ihre Gesten denen des großen Mannes glichen; er hörte, wie ihre Stimmen denen der Offiziere ähnelten, die ihr Schiff geentert hatten. Die Dolmetscherin trug ein goldenes Piercing im rechten Nasenflügel. Die Anwältin trug einen eng am Hals anliegenden Thali-Anhänger. Die beiden Frauen sahen aus wie Tamilen, gaben sich aber wie Kanadierinnen.

      So wird das mit Sellian sein, dachte Mahindan: ein Tamile und gleichzeitig ein Kanadier. Er wird sich kleiden wie sie, er wird sich bewegen wie sie, und Kanada wird sein Land sein.

      Das Frauengefängnis ist nicht weit entfernt von hier, sagte die Dolmetscherin. Ich werde einen Besuch für Sie arrangieren.

      Er braucht mich in seiner Nähe, sagte Mahindan. Er ist sehr ängstlich.

      Er dachte an Kumurans Frau, an den Hass in ihren Augen. Die ganzen Wochen auf dem Schiff hatten sie kein einziges Mal miteinander gesprochen, obwohl die Jungen hin und wieder zusammen gespielt hatten. Würde die sich an seinem Jungen rächen? Würde sie ihn misshandeln?

      Die Frau, die sich um meinen Sohn kümmern soll, sagte Mahindan, ist ihm völlig fremd.

      Er wird von Frau Savitri Kumuran beaufsichtigt?, fragte die Dolmetscherin.

      Mahindan zuckte zusammen und lehnte sich zurück. Nein, ihr Name …

      Die Dolmetscherin besprach sich mit den Anwälten, und Mahindan versuchte bestürzt, das, was er wusste, mit dem, was gesagt worden war, in Einklang zu bringen.

      Ja, sagte die Dolmetscherin. Es ist Mrs. Kumuran. Das Gute ist, dass Sie dieselben Anwälte haben. Wir werden demnächst mit ihr sprechen. Hören Sie. Wir sind nicht in Sri Lanka. Sie haben mein Wort, dass der Junge in sicheren Händen ist. Er hat inzwischen Essen bekommen und ist gewaschen worden. Über Ihren Sohn, sagte sie mit seitlicher Kopfbewegung, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.

      Irgendetwas an der Art, wie sie das sagte, und an der Bestimmtheit, die aus ihrem Gesicht sprach, flößte ihm Vertrauen ein, er glaubte ihr. Wir sind in Kanada, dachte er. Vergiss die Frau. Auf dieses Land kann ich bauen.

      Wie lange sollen wir im Gefängnis bleiben?, fragte Ranga und streifte mit einer Hand flüchtig über die Narbe auf seiner Wange.

      Mr. Gigovaz antwortete auf Englisch. Er richtete sich emphatisch gestikulierend an alle.

      Der erste Schritt sei, ihre Identität nachzuweisen. Die Regierung würde ihre Papiere prüfen. Es gäbe viele Formulare, die sie ausfüllen müssten. Man würde sorgfältig überprüfen, wer das Gefängnis verlassen dürfe. Darauf folge eine Anhörung, um festzustellen, ob sie Flüchtlingsstatus beantragen dürften. Und dann käme eine weitere Anhörung, ob der Flüchtlingsstatus ihnen gewährt werden könne. Das war das Prozedere, und es würde eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Niemand könne voraussagen, wie lange es dauern wird.

      Kann mein Sohn nicht hier unterkommen?, fragte Mahindan. Er ist noch klein … gerade mal sechs Jahre.

      Sie müssen schon Geduld haben, sagte Mr. Gigovaz. Frauen und Kinder werden vorrangig behandelt.

      Das alles klang kompliziert und ermüdend. Mahindan konnte den Unterschied zwischen der einen Anhörung und der nächsten nicht begreifen. Die ganze Zeit waren sie in Sri Lanka auf der Flucht gewesen, dann kamen sie ins Gefangenenlager, und immer ging es nur darum, am Leben zu bleiben und rauszukommen. Er hatte sich kaum