Boat People. Sharon Bala

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Название Boat People
Автор произведения Sharon Bala
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114441



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hatte die Fotos im Beweismaterial gesehen. Sie hatte die verrostete Toilette gesehen: einen etwas erhöht montierten Aluminiumtrichter mit beidseits angebrachter Trittfläche – ein primitives Gestell, umrandet von orangebraunem Rost und notdürftig in ein winziges Gehäuse eingebaut.

      Nakamura erhob ihre Stimme. Fünfhundert Menschen auf einem nachgerüsteten Frachtschiff. Wer hat das alles organisiert, wenn nicht ein Ring von Schmugglern?

      Mit Verlaub, sagte Gigovaz, das sind alles nur Indizien. Wir müssen uns an die Regel der primären Beweismittel halten.

      Nakamura runzelte ärgerlich die Stirn und Priya presste die Finger zusammen. Was Gigovaz gesagt hatte, war richtig. Singh hätte keine Mutmaßungen in den Prozess einbringen dürfen. Dieser ganzen Sitzung haftete etwas Informelles und Ungehöriges an.

      Gigovaz räusperte sich und machte einen zweiten Anlauf. Anstatt herumzurätseln, was sein könnte, sollten wir uns mit dem konkret vorliegenden Beweis befassen. Mr. Mahindan hat seine Geburtsurkunde vorgelegt, seinen Personalausweis aus Sri Lanka, Schulzeugnisse, Heiratsurkunde und auch die Sterbeurkunde seiner verstorbenen Ehefrau. Er kooperiert bereitwillig beim Nachweis seiner Identität.

      Mit wiedergewonnener Fassung wandte Nakamura sich Singh zu. Sind die Dokumente der Migranten verifiziert worden?

      Das juristische Hin und Her kam unendlich langsam voran. Jeder sprach immer nur ein oder zwei Sätze, um auf die Übersetzung zu warten. Während Blacker übersetzte, wurde rundum geflüstert. Die Reporter kritzelten eifrig in ihre Notizblöcke. Wie sie von einer Seite des Raumes her geschlossen den Prozess verfolgten, kamen sie Priya vor wie eine Jury.

      Die Luft im Raum war trocken, im Hintergrund summte die Klimaanlage. Priya sah, wie Mahindan schluckte. Er machte, ohne zu sprechen, den Mund auf und zu. Sie schrieb etwas auf ihren Block und schob ihn Gigovaz zu. H2O? Gigovaz schrieb zurück: Wasserspender, Lobby.

      Wie läuft’s?, fragte Charlie, als sie Priya herauskommen sah.

      Sie und die anderen hatten Sitzplätze in einem kleinen Warteraum gefunden und unterhielten sich vertraulich auf Tamil. Priya war überrascht, sie so entspannt, fast fröhlich zu sehen. In der Nähe stand ein gelangweilter Gefängniswärter. Ich weiß nicht, sagte Priya. Langsam.

      Wenn sie die Verhandlungen opponierender Anwälte verfolgte, hatte Priya ein gutes Gespür dafür, wer die Oberhand hatte. Aber für eine quasi-gerichtliche Sitzung wie diese hier fehlte ihr das Barometer, um den Stand der Dinge abzulesen. Ich kenne mich in Fusionen und Aufkäufen aus, dachte sie. Aber von dem hier verstehe ich überhaupt nichts.

      Es war kurz vor elf. Joyce führt jetzt ihre CEOs in den Konferenzraum, dachte sie. Dort standen Glaskrüge mit kaltem Wasser, Kaffee wurde hereingebracht und serviert. Priya wäre jetzt auch dort, wenn sie damals bei dieser blöden Sitzung Gigovaz nicht so angestarrt hätte. Sie würde jetzt die Broschüren austeilen, dann mit überschlagenen Beinen auf ihrer Stuhlkante sitzen und sich Notizen machen, während Joyce den Vorsitz über die Vermählung der beiden größten pharmazeutischen Konzerne des Landes ­führte.

      Sitzen viele Richter da drin?, wollte Prasad wissen.

      Nur ein Entscheider, sagte Priya. Das ist kein richtiger Gerichtssaal, die sitzen alle nur in einer Art von Viereck. Nicht ganz so einschüchternd.

      Charlie gab das Gehörte weiter an ihre Schützlinge, während Priya sich über den Wasserspender beugte, zwei Pappbecher füllte und diese im Vorbeigehen hochhob. Ich bringe Wasser rein, sagte sie. Es ist richtig trocken da drin.

      Als sie wieder in den Raum kam, sprach Singh gerade: Wir untersuchen hunderte von Fällen. Natürlich geht da die Identitätsüberprüfung langsamer voran als gewöhnlich.

      Priya stellte die beiden Becher vor Mahindan ab. Sie zog ihren Stuhl so lautlos wie möglich zurück.

      Mr. Mahindan sitzt unter Freiheitsentzug im Gefängnis, sagte Gigovaz; sein sechsjähriger Sohn lebt bei ihm völlig fremden Frauen. Wir dürfen die psychologischen Folgen der Inhaftierung und der Trennung nicht außer Acht lassen, besonders im Falle des Kindes.

      Der Antragsteller ist Staatsangehöriger eines Landes, wo in den letzten drei Jahrzehnten bekannte Terroristen Bürgerkriege angezettelt haben, sagte Singh. Der Minister drängt darauf, dass wir mit aller gebotenen Sorgfalt und Umsicht vorgehen, um die Souveränität unserer Nation zu schützen.

      Souveränität. Wieder dieses Wort. In hohen Tönen, wie aus einer Hundepfeife.

      Nakamura erhob eine Hand. Sehr gut, meine Entscheidung ist getroffen. Mr. Gigovaz, ich halte Ihre Bedenken für voreilig. Dieser Mann und seine Gruppe sind erst letzte Woche hier angekommen. Verzögerungen sind zu erwarten. Der Migrant wird in der Haft bleiben, wir werden seinen Fall nächste Woche noch einmal überprüfen. Bringen Sie bitte den nächsten Antragsteller herein.

      RAMAS LIED

      November 2002

      Chithra und Ruksala legten ihren Ultraschalltest auf denselben Termin, so dass sie sich alle den Vormittag freinehmen und zusammen bei Mahindan und Chithra Mittag essen konnten: übrig gebliebene String Hoppers mit Eiercurry und extra scharfem Pol Sambol. Sie aßen mit den Fingern, und der Deckenventilator blies ihnen das Haar durcheinander.

      Die LTTE hat jetzt genug von der Regierung, sagte Ruksala und fischte ein Ei aus dem Currytopf.

      Der Waffenstillstand war aufgehoben worden. Die Tigers hatten die Verhandlungen abgebrochen, und selbst Ruksala glaubte, dass das nun endgültig war. Ihr Cousin Shangham hatte seine Uniform wieder angezogen und war kampfbereit zurückgegangen, aber Prabhakaran, der Führer der LTTE, sagte, dass das nicht genug sei. Sie brauchten mehr Kämpfer. Jede patriotisch gesonnene Familie müsse wenigstens einen schicken.

      Da braut sich was zusammen, sagte Rama.

      Was?, fragte Chithra mit hochgehaltener Sambol-Schale.

      Aber Mahindan schüttelte kaum merklich den Kopf, und Rama gab keine Antwort. Stattdessen machte er sich Luft über die Vertretungslehrer in der Schule. Unausgebildete Kasper, die kaum addieren können und sich mühselig durch eine Algebrastunde schlagen, sagte Rama und pochte mit den zusammengefügten Fingerspitzen auf seinen leeren Teller.

      Ruksala beugte sich zu ihm und warf einen String Hopper – ein Bällchen aus Reismehlnudeln – auf seinen Teller. Was können die Tigers schon mit Schulen anfangen, sagte sie. Je eher die Jungs und Mädels da raus sind, desto eher können sie mitkämpfen. Eine Sünde, nicht?

      Die Hälfte der Unterrichtsmaterialien für Physik und Chemie ist kaputt und nicht mehr zu reparieren, sagte Rama.

      Als Vergeltungsmaßnahme für den Rückzug der Tigers vom Verhandlungstisch hatte die Regierung den LTTE-kontrollierten Gebieten Embargos auferlegt. In den Häfen wurden die Schiffe festgehalten, an den Straßenkontrollpunkten die Fahrzeuge, um jede Kiste und jeden Kofferraum zu durchsuchen. Das führte dazu, dass in diesen Regionen kaum noch etwas zu bekommen war, sei es Milch oder eine Verlängerungsschnur.

      Ich kriege für die Werkstatt fast gar nichts mehr, sagte Mahindan und wandte die leicht geballte linke Hand nach oben. Bremsflüssigkeit, Motorenöl … fast unmöglich!

      Allerdings war das Dieselembargo von Vorteil für Mahindan. Der Preis hatte sich über Nacht verdoppelt, und alle wollten ihre Motoren auf Kerosin umbauen lassen. Die Fahrer bliesen dann mit einem Rohr ein paar Tropfen Benzin hinein, und wenn die Motoren angesprungen waren, liefen sie auch mit dem billigeren Treibstoff. Das war eine übelriechende Arbeit für Mahindan, aber sie brauchten das Geld, ganz besonders jetzt, wo das Baby bald kam.

      Und seht doch mal, was in den Krankenhäusern los ist, sagte Ruksala finster. Ich werde mir wahrscheinlich eine Hebamme nach Hause holen.

      Chithra schlug sich an die Stirn. Bloß das nicht! Denk doch mal nach, was da alles passieren kann.

      Mahindan dachte für sich, dass das gar keine schlechte Idee sei. Ihr Krankenhausbesuch am Vormittag war nicht sehr ermutigend gewesen. Patienten lagen auf Tragen in den Korridoren, die Entbindungsstation war zur Hälfte