Boat People. Sharon Bala

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Название Boat People
Автор произведения Sharon Bala
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114441



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Markt, frotzelte Mahindan, der dem Gespräch über Krieg und vorübergehenden Frieden einen Riegel vorschieben wollte.

      Aber schon sagte Rama: Die Verhandlungen werden was bringen. Man sieht doch, was die Europäer für Kosovo getan haben.

      Mahindan und Chithra sahen sich kurz an. Sie hatten keine Ahnung, was in Kosovo vor sich ging, oder wo genau Kosovo auf der Landkarte zu finden war. Mahindan zog die Augenbrauen hoch, so als wollte er sagen: Was hast du uns denn da wieder aufgetischt.

      Abwarten, sagte Rama. Dieser Waffenstillstand ist gerade mal der Anfang.

      In den letzten zehn Jahren hatte die LTTE – Liberation Tigers of Tamil Eelam den Norden Tamil Eelam mit der Hauptstadt Kilinochchi beherrscht. Hier sprachen sie alle dieselbe Sprache, verehrten dieselben Götter. Die Tamilen hatten ihre eigene Polizei, ihre eigenen Banken und Geschäfte. Die Tigers hatten eine Oase errichtet, in der die von der Regierung auferlegten Quoten und Sprachgesetze, all die Maßnahmen, mit denen die tamilische Minderheit entrechtet werden sollte, nichts ausrichten konnten. Jetzt mussten die Singhalesen es nur noch offiziell bestätigen: die Insel teilen und den Tamilen ihr eigenes Land geben.

      Die Singhalesen werden uns nie in Ruhe lassen, sagte Chithra. Das werden die mit ihren Schutzhelmen und Sonnenbrillen niemals begreifen.

      Rama aber setzte auf Kompromiss: Selbstverwaltung und keine Trennung. Tamil Eelam als autonome Provinz innerhalb eines vereinigten Sri Lanka. Er sagte: Wer finanziert denn die Regierung? Norwegen. Der größte Geldgeber.

      Und jetzt, wo Norwegen beide Seiten zusammengebracht hat, sagte Ruksala, müssen die Singhalesen und etwas abgeben.

      Es war schon immer so: auf der einen Seite Rama und Ruksala mit ihren von globalen Medien und internationalen Pandits geprägten Argumenten, auf der anderen Seite Chithra mit ihrem instinktiven Zynismus. Mahindan versuchte, sich aus diesen Debatten herauszuhalten. Was geschehen würde, würde geschehen. Wozu diese Diskussionen? Damit erreichte man ja doch nichts.

      Eine Schlangenbrut, diese Singhalesen, sagte Chithra. Norwegen oder nicht, die finden schon einen Trick, die Verhandlungen platzen zu lassen. Sie sah sich um und fügte leise hinzu: Wenn nicht die, dann Prabhakaran. Unseren Kerlen traue ich auch nicht.

      Krieg ist nicht gut fürs Geschäft, sagte Rama. Schlechte Ökonomie. Die Norweger werden eine Lösung finden.

      Ruksala war anderer Meinung: Die Singhalesen sind mit ihrem Krieg am Ende, glaube ich. Die haben ja gesehen, dass sie gegen unsere Jungs nicht ankommen. Die sind klug genug, uns nicht weiter zu bekämpfen.

      FAMILIENGESCHÄFT

      Niemand schien über ihr Kommen informiert worden zu sein. Man führte sie zu einem fensterlosen Raum, der nicht mehr war als eine im letzten Moment eilig geräumte Besenkammer. Die Schubladen der Aktenschränke standen offen, darin hingen noch vereinzelte Ordner. Ein Computermonitor war da, auch eine Tastatur, aber keine Maus. Die herausgezogenen Netzteile lagen wirr verstreut herum.

      Ihr neues Büro, erklärte Kelly von der Personalabteilung, schaute auf ihre Uhr und trippelte eilig zu einem Meeting.

      Grace hörte das Summen in ihrer Handtasche. Eine SMS von Fred Blair: Viel Glück für heute! Sie werden glänzen. Grace schickte ihm ein Smiley zurück. Danke. Bisher alles ok.

      Auf der Suche nach einer Steckdose kroch sie unter den Schreibtisch. So ein schäbiges Büro war nicht unbedingt ein schlechtes Vorzeichen. Diese Sache hier würde sie schon in den Griff bekommen.

      Der Computer brauchte ein Passwort. Am Schreibtischtelefon sah sie ein Post-it mit einer zehnstelligen Zahl.

      In Ottawa war gerade Mittag, und der Mann, der ihren Anruf entgegennahm, schien beim Sprechen zu kauen. Sorry, sagte er. Ihre Anstellung bei der Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde ist hier nicht gemeldet.

      Grace Nakamura, sagte sie und buchstabierte ihren Namen. Ich bin das neue Mitglied der Prüfungskommission in der Zweigstelle Vancouver. Heute ist mein erster Tag.

      Sie müssen das Formular H46 ausfüllen, sagte er. H46, nicht H46 A. Haben Sie Zugang zum Intranet?

      Grace starrte auf den leeren Bildschirm und das Rechteck für das Passwort. Nicht ohne Passwort, sagte sie.

      Füllen Sie das Formular aus, bitten Sie jemand von Ihrer Personalabteilung, es uns herzufaxen, dann können Sie in fünf bis sieben Geschäftstagen Ihre Arbeit aufnehmen.

      Und was soll ich eine ganze Woche lang ohne Computer anfangen?

      Grace versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, ob es damals, als sie bei Fred angefangen hatte, auch so gewesen war. Aber das war zwanzig Jahre her, da gab es noch keine Intranets und keine E-Mails.

      H46 A, sagte sie und griff nach einem Stift. Aber sie fand kein Papier. Sie schrieb es auf ihren Handrücken.

      H46, sagte der IT-Mann.

      Schließlich kehrte Kelly von der Personalabteilung zurück, um auf die Toilette zu gehen und Grace den anderen Kollegen vorzustellen. Grace gab jedem die Hand und wusste, dass sie unmöglich ihre Namen behalten konnte. Es wurde viel geredet von einem Mann namens Mitchell Hurst, der gerade von seinem einjährigen Sabbatical zurückgekehrt war.

      Elternzeit?, fragte Grace.

      Mitchells Kinder sind an der Universität, sagte Kelly. Nein, er hat sich ein Jahr freigenommen, um beim UNHCR zu arbeiten.

      Es war 10 Uhr am Vormittag, und Kelly hatte sie schon mit Dutzenden von Akronymen beworfen. Grace fragte nicht, was dieses bedeutete.

      Mitchell engagiert sich für das globale Hilfswerk. Ich wette, dass das Rote Kreuz ihn uns bald abziehen wird. Und dann geht er nach Kenia und hebt Brunnen aus. Eigentlich schade. Er ist einer der besten Leute, die wir haben.

      Als sie an seinem leeren Büro vorbeigingen, blieb Grace eine Weile stehen. Über dem Türpfosten hing eine Girlande aus einem Ein-Dollar-Laden, darunter stand in bunt glänzenden Plastik-­Lettern Willkommen zu Hause. Ein Rucksack war lässig über den Bürostuhl geworfen, darauf ein Fahrradhelm. Grace war versucht, den Tacker zu schnappen, der aufrecht auf seinem Schreibtisch stand. Sie legte die Hände auf dem Rücken zusammen und ging weiter, um Kelly einzuholen.

      Den Rest des Vormittags hörte sie sich die Stimmen ihrer neuen Kollegen an. Ab und zu schnappte sie Mitchells tiefe Bassstimme auf, die kräftig und freundlich immer wieder sagte: Danke, ja, schön, wieder hier zu sein. Sie wünschte sich Gesellschaft und hätte gern die nächsten acht Wochen übersprungen, um dort zu sein, wo sie alle beim Namen kennt und mit ihnen über das Wochenende plaudern kann.

      Sie hatte erwartet, an ihrem ersten Tag zum Lunch eingeladen zu werden, aber als es halb zwei wurde und niemand in ihr Büro gekommen war, ging sie zu einem Deli direkt gegenüber und kaufte sich ein Sandwich zum Mitnehmen.

      Grace hatte schon immer die ersten Tage gefürchtet, den Moment, wo sie mit ihrem Tablett in der Hand vom Eingang der Kantine aus die voll besetzten Tische nach einem anonymen Sitzplatz absuchte. Aber diese Kantine hier war fast leer: ein halbes Dutzend runde Tische und eine einzige Person – ein ihr unbekannter Mann, gebeugt über eine Zeitung, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Auf einer Seite war ein Farbfoto zu sehen, das zeigte, wie Menschen unter dem Schutz großer Regenschirme von der Landungsbrücke eines Schiffes abgeführt wurden. Die Überschrift verkündete in marktschreierischen Großbuchstaben: MIGRANTEN – PRIME MINISTER SETZT AUF HARTEN KURS.

      Sie sind doch der berühmt-berüchtigte Mitchell Hurst, sagte Grace und zog einen Stuhl heran.

      Er hatte kurzgeschorenes rotes Haar, graumelierte Schläfen und ein von Sommersprossen gebräuntes Gesicht. Während er mit dem Daumennagel eine Apfelsine attackierte, sah er missmutig zu ihr auf. Berühmt-berüchtigt?

      Na ja, ich … ich habe sehr viel von Ihnen gehört, sagte Grace. Warum nur hatte sie so etwas Blödes gesagt?

      Sie machte