Boat People. Sharon Bala

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Название Boat People
Автор произведения Sharon Bala
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783963114441



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in Kenia? Seine Augenbrauen gingen ungnädig nach oben. Wer hat Ihnen denn das erzählt?

      Scheiße, dachte sie. Zweimal daneben.

      Kopfschüttelnd löste Mitchell die Schale von der Apfelsine. Bangkok, sagte er. Weit weg von Kenia. Und Flüchtlinge, keine Brunnen.

      Ach ja. Bei dem … Sie suchte nach dem Akronym.

      Dem Büro des UN-Hochkommissariats für Flüchtlingshilfe, sagte Mitchell. Ich war Berater in Sachen Umsiedlung. Nargis hat für Arbeit gesorgt.

      Grace traute sich nicht zu fragen, warum es Flüchtlinge in Thailand gab oder wer Nargis war. Aber ihre Unwissenheit entging ihm nicht.

      Der Zyklon Nargis?, sagte er. Die schlimmste Naturkatastrophe in der Geschichte von Myanmar.

      Klar, sagte sie. Wir haben hier davon gehört.

      Blödsinn, erwiderte sein Blick auf diese Lüge. Er halbierte seine Apfelsine, legte die beiden Hälften auf eine Papierserviette und wandte sich der Zeitung zu.

      Grace wickelte ihr Sandwich aus. Den Prosciutto mit Birne, der im Glaskasten vom Deli so appetitlich ausgesehen hatte, fand sie jetzt widerlich. Er hatte sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt. Und das war der Mann, den das ganze Büro so umschwärmte?

      Ich bin Grace Nakamura, sagte sie.

      Als er schließlich von seiner Zeitung aufblickte, starrte sie ihm direkt in die Augen.

      Er verzog keine Miene, so als merkte er gar nicht, wie stoffelig er sich benahm. Als wäre es ihm völlig egal.

      Ich habe heute angefangen, sagte sie.

      Ich weiß. Die Regierung hat uns wieder mal jemanden geschickt. Wo waren Sie vorher – Grenzdienst? Justizministerium?

      Ministerium für Verkehr und Infrastruktur, sagte sie. Ich war Einsatzleiterin.

      Natürlich waren Sie das. Er blätterte weiter in seiner Zeitung und würdigte sie auch jetzt keines Blickes.

      Grace hatte von zu Hause eine Tüte Weintrauben mitgebracht. Sie steckte sich eine Traube in den Mund, aß die Kerne mit und wünschte, sie wäre im Deli geblieben.

      Die Kantine hatte ein Spülbecken, eine Mikrowelle und dazwischen eine schmale Ablage. An einem Pinnbrett hing ein Unterschriftenblatt für den Küchendienst, daneben eine schematische Darstellung des richtigen Hebens von Gewichten. Einen kurzen Moment lang vermisste sie ihren alten Job, die unbestrittene Autorität, mit der sie bei den Meetings den Laserpointer geschwenkt und die Minister beraten hatte.

      Aber dann dachte sie an den Anruf von Fred, und wie stolz sie gewesen war, als ihr alter Mentor – der in die Bundesregierung gewählt worden war und in Ottawa einen Kabinettposten inne­hatte – ihr diese neue Chance anbot. Und außerdem war ihre Anstellung hier befristet. Nach den drei Jahren würde sie aufsteigen – zu Größerem und Besserem.

      Mitchell faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. Er lehnte sich zurück, aß ein Stück Apfelsine und beobachtete sie teilnahmslos. Er trug einen Anzug, schien aber zu der Sorte Mensch zu gehören, die sich in Wanderschuhen und mit Tilley-Hut wohler fühlte. Um Augen und Mund zogen sich feine Linien. Sie schätzte, dass er auf die fünfzig zuging, also nur ein paar Jahre älter als sie war. Aber er hatte die herablassende Art eines Dienstälteren. Eingebildeter Affe, dachte sie. Obwohl sie nicht wusste, worauf er sich etwas einbilden konnte.

      Mitchell steckte sich ein zweites Stück Apfelsine in den Mund und kaute langsam, methodisch. Grace brach den Augenkontakt ab und sah über seine Schulter hinweg. Jemand hatte sich eine Suppe mitgebracht; der Geruch von Chowder hing noch eine Weile in der Luft. Am Kühlschrank klebte ein Zettel mit der Information, dass er freitagabends ausgeleert wurde. Grace hörte Schritte im Korridor, aber niemand kam, sie zu befreien.

      Und Sie?, fragte sie schließlich. Sind Sie schon lange bei der Einwanderungsbehörde?

      Neun Jahre, sagte er.

      Und davor? Sie lächelte dünn und machte ein Friedensangebot: Brunnen in Kenia?

      Einwanderungsgesetz, sagte er. Zehn Jahre lang. Und davor Jurastudium.

      Und was hat Sie hierher verschlagen?, fragte sie.

      Meine Mandanten, sagte er. Ich konnte sehen, wie willkürlich der ganze Prozess ist, wie viel von den Entscheidern abhängt, wie viele von denen ohne jegliche Qualifikation und völlig unvorbereitet zu diesem Job kommen. Meiner Meinung nach.

      Diesen letzten Satz hatte er in einem Ton hinzugefügt, den sie nicht deuten konnte. War er sarkastisch gemeint? Dann wickelte er die Apfelsinenschale in ein Stück Alufolie, knüllte das Ganze zu einem Ball zusammen und warf ihn im hohen Bogen zum anderen Ende der Kantine. Er landete im Abfalleimer. Ein perfekter Wurf.

      Na dann viel Glück, Grace Nakamura, sagte Mitchell und stand auf. Jede Entscheidung ist ein Wendepunkt im Leben eines Menschen. Ehrlich gesagt, als Rechtsanwalt konnte ich besser schlafen.

      Grace schraubte ihre Limoflasche auf. Es machte nichts, dass sie kein Jurastudium absolviert hatte. Dieser Job verlangt einen gesunden Instinkt, hatte Fred gesagt. Alles Übrige kann man lernen. Sie hatte die Prüfung gemacht wie alle anderen. Sie hatte das Recht, hier zu sein, nicht weniger als Mitchell Hurst.

      Später am Nachmittag kamen die Entscheider zu einer Sitzung zusammen. Die Vorsitzende war eine sehr große Frau mit einem aufgebauschten Rock. Ich habe dieses Meeting einberufen, um Sie über das Frachtschiff aus Sri Lanka zu informieren.

      Fünfhundertdrei Migranten: 297 Männer, 181 Frauen, 25 Minderjährige. Alle werden einen Asylantrag stellen. Das ganze Land wusste bereits von der Ankunft dieses Schiffes. Am Tag zuvor hatte es überall in den Schlagzeilen gestanden und wurde im Fernsehen gezeigt, das im Hintergrund lief, als Grace und die Kinder bei den Nachbarn dem Feuerwerk zuschauten und Steve unterwegs war, Raketen zu kaufen. Aber Grace wusste, dass mehr dahintersteckte, als offiziell berichtet wurde.

      Fred hatte sie telefonisch schon in Kenntnis gesetzt. Die Regierung hatte Geheiminformation erhalten, sagte er. Die Hälfte der Leute an Bord hatte Verbindung zur LTTE, einer Gruppe von Separatisten, besser bekannt als die Tamil Tigers, die seit mehr als zwanzig Jahren Krieg gegen die Regierung von Sri Lanka führten. Verlierer eines Kriegs in Übersee, die jetzt nach Kanada flohen, um ihre Wunden zu lecken und sich neu zu gruppieren.

      Kanada hat den Ruf, weichmütig zu sein, hatte Fred gesagt. Wir müssen die Welt eines Besseren belehren. Ich baue auf Sie, Grace. Das ganze Land baut auf Sie.

      Grace fragte sich, warum die Vorsitzende von all dem überhaupt nichts erwähnte – von den Geheimdienstberichten, von den Tamil Tigers und ihrem langjährigen internationalen Waffenhandel, von den Wohltätigkeitsfassaden in anderen Ländern, hinter denen sie ihre Gelder wuschen, von Freds Verdacht, dass sie Kanada als Basis für neue Anschläge in Sri Lanka benutzen wollten.

      Damit werden wir voll und ganz beschäftigt sein, sagte die Vorsitzende. Diese Fälle haben Priorität.

      Grace überlegte, ob sie etwas sagen sollte. Außer ihr waren noch sieben andere Kollegen da, und sie alle würden die gleiche Entscheidungsbefugnis darüber haben, wer im Land bleiben durfte und wer abgeschoben wurde.

      Die Haftüberprüfungen beginnen am Montag, sagte die Vorsitzende. Räumen Sie alles vom Tisch.

      Grace glaubte, gehört zu haben: Räumen Sie alle vom Schiff. Sie musterte die Anwesenden. Alle hielten ihre Augen auf die Vorsitzende gerichtet, außer Mitchell, der etwas in seinen Notizblock schrieb. Er sah auf und sie sah weg. Die waren alle schon länger hier als sie, aber sie musste doch etwas sagen, wenn …

      Unser Rechercheteam hat diese Nationalen Dokumentationspakete zusammengestellt, sagte die Vorsitzende. Sie stand zwischen zwei Türmen schlanker blauer Ordner und legte demonstrativ die rechte Hand auf den rechten Stapel, die linke auf den linken. Diese werden Sie auf den jüngsten Stand bringen.

      Grace nahm einen Ordner und gab