Schattenkinder. Marcel Bauer

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Название Schattenkinder
Автор произведения Marcel Bauer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783898019002



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konnten, dass die Schlepper ihre Versprechen hielten. Sie nähmen ihnen nicht nur ihr gesamtes Bargeld ab, sondern auch Schmuck, Uhren und sonstige Wertsachen. Das nenne man im Volksmund »den Hut rund gehen lassen«. Er warnte Rozenberg dringend davor, sich mit solchen Leuten einzulassen.

      Der Viehhändler wirkte resigniert. Er sagte, seine Familie sei bereits »nach drüben abgehauen«, und er werde ihnen bald nachfolgen, denn es gebe hier für ihn kein Auskommen mehr, seitdem sie ihn aus der Metzgerinnung geworfen hätten. Er müsse noch ein paar Dinge regeln, dann werde er verschwinden.

      Inzwischen war es Nacht geworden, und Mendel war bereits am Tisch eingeschlafen. Haas lud die Besucher ein, die Nacht bei ihm zu verbringen. Für eine Rückreise nach Aachen sei es eh zu spät. Auch sei es nicht ratsam, die Nacht auf dem Bahnhof zu verbringen, und die wenigen Pensionen und Hotels, die es im Ort gebe, würden wegen der Grenznähe von der Gestapo überwacht. Die Rozenbergs nahmen das Angebot dankbar an.

      * * *

      Niedergeschlagen trat Rozenberg am nächsten Morgen die Rückreise nach Aachen an. Als sie in der Pension eintrafen, fand er seine Frau völlig aufgelöst vor. Sie hatte sich große Sorgen gemacht, weil sie nicht wie versprochen am Abend zurückgekehrt waren. Umso glücklicher war sie, Vater und Sohn wohlbehalten in ihre Arme schließen zu können. Für die beiden Söhne waren solche Emotionen ein ungewohntes Schauspiel.

      Die Mutter berichtete aufgeregt, dass sie während seiner Abwesenheit mit der Pensionswirtin aneinandergeraten sei. Die habe ihr auf den Kopf zugesagt, dass sie keine harmlosen Reisenden, sondern flüchtige Juden seien. Solcherlei dulde sie nicht in ihrem Haus. Sie habe mit der Polizei gedroht. Nach einigen Beschimpfungen habe sie ein überraschendes Angebot gemacht. Sie kenne da jemanden, der könne ihnen helfen über die Grenze zu kommen: wenn sie bereit wären, dafür den entsprechenden Preis zu zahlen! Obwohl Haas ausdrücklich vor solchen Judenfängern gewarnt hatte, beschlossen die Eltern, auf das Angebot einzugehen.

      Am Abend fand sich der Schlepper in der Pension ein. Der Mann machte einen ungepflegten und gemeinen Eindruck. Rozenberg war auf der Hut und entschlossen, sich nicht über den Tisch ziehen zu lassen. Das Gespräch verlief in angespannter Atmosphäre. Während die Mutter dolmetschte, lauerte die Wirtin im Hintergrund.

      Der Mann begann damit, die Gefahren an die Wand zu malen, die ihnen drohten, wenn sie sich ohne ortskundige Führer auf den Weg machen sollten. Die größte Gefahr ginge nicht von deutschen Zöllnern, sondern von belgischen Gendarmen aus. Wer sich von denen in der Grenzzone erwischen lasse, werde sofort ins Reich abgeschoben. Und sie wüssten ja, was ihnen dann blühte. Selbst, wenn sie es auf die andere Seite schaffen würden, wären sie noch nicht in Sicherheit. Die Bewohner der Grenzgebiete sympathisierten mit den Nationalsozialisten. Sie würden sie verraten und der Gendarmerie ausliefern.

      Rozenberg war verunsichert: Von solchen Schwierigkeiten hatte der Viehhändler nichts berichtet. Er wollte den Schlepper auf die Probe stellen und fragte, wie er es denn anstellen werde, um sie unbemerkt über die Grenze zu bringen, wo doch alles hermetisch abgeriegelt sei. Der Schleuser lächelte maliziös, beugte sich vor und begann zu flüstern: Es gebe immer noch ein Schlupfloch an der Grenze, ein Nadelöhr, das weder die Deutschen noch die Belgier hätten schließen können. Ob sie jemals von der Vennbahn13 gehört hätten? Rozenberg horchte auf: eine Vennbahn? Was war damit?

      Der Mann erläuterte, diese Bahnstrecke sei eine von den verrückten Sachen, die in Versailles ausgeheckt worden wären. Die Bahn stamme aus preußischer Zeit und führe quer durch die Eifel. Sie verbinde das Aachener Kohlerevier mit dem luxemburgischen Stahlrevier. Um den Deutschen zu schaden, habe man die Vennbahn zusammen mit den Kreisen Eupen und Malmedy Belgien zugesprochen.

      Seitdem schlängele sie sich als belgische Staatsbahn wie ein Bandwurm fünfzig Kilometer weit durch deutsches Staatsgebiet. In den Zügen gebe es streckenweise kein deutsches Personal, da einige Bahnhöfe auf belgischem Hoheitsgebiet lägen. Wenn sie sich am Bahnhof in Aachen als Wanderer und Sommerfrischler ausgeben würden, würde niemand Verdacht schöpfen. Den Rest würde er besorgen.

      Rozenberg witterte Morgenluft: Das war es! Er schlug die Warnungen des Viehhändlers in den Wind und fragte den Schlepper, was eine Passage kosten würde.

      Alles hinge von der Höhe der Gage ab, sagte der süffisant: je höher das Honorar wäre, umso besser der Service. Manche Kunden habe er schon komfortabel mit dem Taxi über die Grenze chauffiert. Er schaute Rozenberg etwas herablassend an. Wie viel er denn zu investieren gedenke?

      Der Metzger bot 1.000 Reichsmark an, für alle vier wohlgemerkt. Der Schlepper grinste abfällig, erhob sich und tat so, als wolle er den Raum verlassen. Da packte Rozenberg ihn beim Ärmel, drückte ihn wieder auf den Stuhl und sagte, er verdoppele das Angebot. Schließlich wurden beide sich bei 2.200 Reichsmark handelseinig: 600 RM pro Erwachsenen, 500 RM für jedes Kind. Hinzu kam eine Provision von 350 RM für die Wirtin. Das Honorar solle vor Antritt der Reise bar gezahlt werden.

      Auf dem Zimmer berichteten die Eltern den Söhnen, die aufgeregt gewartet hatten, dass alles geregelt sei. Morgen Abend würde ein Mann sie über die Grenze bringen. Dann wären sie in Sicherheit.

      Allerdings dämpften die Eltern die Freude der Jungen, indem sie mitteilten, der Schlepper habe verlangt, dass sie ihr gesamtes Gepäck zurücklassen müssten, um keinen Argwohn zu erregen. Die Wirtin habe sich angeboten, es in Verwahr zu nehmen, wobei die Mutter sich keine Illusion machte, dass sie je etwas wiedersehen würde. Joshua fürchtete schon, er müsse Roro zurücklassen, aber die Mutter beruhigte ihn, davon könne keine Rede sein. Der Vater bestand darauf, die Trompete mitzunehmen. Mendel musste sie in seinen Rucksack stecken und dafür seinen Metallbaukasten zurücklassen.

      In der Nacht hatte es geregnet. Als sie sich auf dem Regionalbahnhof Aachen-Brand einfanden, trafen sie auf dem Bahnsteig auf eine Gruppe Wanderer, die angeblich genau wie sie selber die Eifel erkunden wollten. Alle schienen auf den gleichen Wanderführer zu warten. Auch die Rozenbergs wunderten sich, dass sie den Schleuser nicht sahen.

      Schließlich stellte sich ihnen kurz vor der Abfahrt ein Mann vor, der vorgab, im Auftrag des Herrn Soundso zu kommen, der leider verhindert sei. Es sei aber alles geregelt: Wie besprochen seien die Eisenbahner, sowohl die deutschen wie die belgischen, eingeweiht und hätten ihre Provisionen schon kassiert. Niemand werde sie behelligen. Allerdings habe er Fahrscheine für die gesamte Strecke, also von Aachen bis nach Luxemburg, lösen müssen, und diesen Aufschlag müssten sie extra bezahlen.

      Zähneknirschend fügte auch Rozenberg dem Geld, das er schon abgezählt in seiner Hosentasche hatte, noch einige Scheine hinzu. Ihm blutete das Herz, denn er wusste, dass es ihm für eine Geschäftsgründung fehlen würde. Nachdem der Mann diskret nachgezählt hatte, überreichte er die Fahrscheine und gab allen Anweisungen über den Verlauf ihrer anstehenden Reise.

      In Monschau, an der 13. Haltestation, sollten sie aussteigen. Dort erwarte sie ein Kurier, der sie über die nahe Grenze bringen werde. Im Bewusstsein, dass sie einem Betrüger auf den Leim gegangen waren, bestiegen sie den Zug. Mendel schlug dem Vater vor, den Kerl bei der deutschen Polizei anzuzeigen, aber der meinte, das sei keine gute Idee.

      Unterwegs gaben sie sich Mühe, wie harmlose Reisende zu wirken. Die Söhne spielten Karten, die Eltern blätterten in deutschen Zeitschriften. Mendel hatte sich bei dem Ausflug in die Eifel erkältet und hörte deshalb nicht auf zu husten und zu schniefen, was den Vater auf Dauer nervös machte. »Reiß dich zusammen«, fuhr er ihn an, »willst du unbedingt, dass wir auffallen?«

      Aber die Sorge war unbegründet, denn auf der gesamten Strecke begegnete ihnen kein Schaffner. Aus dem Zug konnten sie beobachten, dass auf den Bahnhöfen, die sie passierten, abwechselnd deutsche Schutzpolizisten und belgische Zöllner patrouillierten und die aussteigenden Reisenden kontrollierten.

      Die Landschaft, die an ihnen vorüber zog, veränderte sich zusehends: Heide- und Moorflächen lösten die Wiesenlandschaft ab. Die Sonne stand schon tief am Horizont, als sie die Halte­station Monschau erreichten.

      Der kleine Bahnhof, der eine belgische Enklave in Deutschland bildete, lag oberhalb des Städtchens an einem Flachhang, der mit Ginster und Dornengestrüpp bewachsen war. Es gab ein Wartehäuschen, in dem sich eine größere Menschengruppe