Schattenkinder. Marcel Bauer

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Название Schattenkinder
Автор произведения Marcel Bauer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783898019002



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die Männer offene Hemden. Einige hatten Wanderstöcke dabei, trugen grüne Knickerbocker und Jägerhüte mit Gamsbart. Die Frauen hatten leichtes Schuhwerk an den Füßen, einige sogar Stöckelschuhe. Ein junges Paar hatte einen geflochtenen Picknickkorb dabei, der mit einem Küchentuch abgedeckt war und aus dem verdächtige Geräusche drangen, die sich als das Gequäke eines Säuglings entpuppten.

      Nachdem man sich gegenseitig gemustert und festgestellt hatte, dass alle auf den gleichen Betrüger hereingefallen waren, beratschlagten sie gemeinsam, was zu tun sei.

      Den meisten schien es ratsam, nicht länger zu verweilen, sondern sich alleine auf den Weg zu machen, weil sie sonst unweigerlich einer deutschen Zollstreife in die Hände fallen würden. Eine kleinere Gruppe wollte weiterhin an der Station ausharren, in der Hoffnung, dass der Kurier doch noch auftauchen werde. Da niemand eine Landkarte besaß, übergab die größere Gruppe die Führung einem jungen Mann, der behauptete, das Gelände zu kennen. Man brauche nur der Bahnlinie zu folgen und sich irgendwann nach Westen wenden.

      Bei leichtem Nieselregen zogen sie los. Elsa Rozenberg nahm ihren Jüngsten bei der Hand und drückte seine Hand so fest, dass es Joshua wehtat. Sie ließ nicht zu, dass er sich auch nur einen Fußbreit von ihr entfernte. Immer wenn er zu straucheln drohte, fing sie ihn auf.

      Bald begann es zu dunkeln, und die Flüchtlinge begannen auf den Gleisen zu torkeln. Öfter rutschten sie auf nassen Bahnschwellen aus und stolperten über den Schotter, wobei etliche sich blutige Knie und Ellbogen holten. Wer so unvorsichtig war und den Bahndamm verließ, riskierte die Böschung hinab zu rutschen und in einem Wassergraben zu landen. Vor allem für die Frauen mit ihrem schlechten Schuhwerk war der Marsch beschwerlich. Immer wieder mussten die Männer warten, damit Frauen und Kinder aufschließen konnten.

      Der junge Mann führte sie an eine Stelle, wo die Bahnstrecke angeblich die Staatsgrenze bildete. Nun hieß es, über Wiesenzäune zu steigen und durch Büsche und Hecken zu kriechen. Jedes Mal, wenn ein verdächtiges Geräusch sie aufschreckte, suchten sie Deckung. Joshuas Mutter warf sich auf den Boden, zog Joshua zu sich herab. Sie drückte dabei sein Gesicht so tief ins Gras, sodass er kaum noch Luft bekam. Doch jedes Mal stammten die Geräusche nur von Rindern, die neugierig nachschauten, wer da mitten in der Nacht durch die Wiesen schlich. Zu ihrem Glück begegneten sie keiner Menschenseele.

      Nach einer Weile stießen sie auf ein Ortschild mit einem deutschen Adler: »Gemeinde Mützenich – Kreis Monschau«. Sie waren im Kreis gelaufen. Erschrocken kehrten sie um und tasteten sich wieder durch das Gehölz, aus dem sie gerade gekommen waren. Schließlich gelangten sie über einen Karrenweg auf eine Lichtung.

      Als die Wolkendecke kurz aufbrach, konnten sie im Mondlicht eine baumlose Ebene erkennen. »Schaut her, das ist das Hohe Venn«14, sagte der junge Mann: »es gehört schon zu Belgien. Wir haben es geschafft!« Alle fassten wieder Mut, auch wenn der Weg noch mühsamer wurde, als der Steig auf einmal aufhörte.

      Joshua spürte, dass der Boden unter seinen Füßen zu wabbeln und zu schwabbeln begann. Hin und wieder federte irgendetwas seine Schritte ab, aber bald gluckste in seinen Schuhen das Wasser. Es ging nur noch durch Sumpf und Morast. Statt über Bahnschwellen stolperten sie nun über Grasbüschel. Sie wateten durch Pfützen und Rinnsale, die in Tümpeln und Wasserlöchern mündeten. Vom Regen völlig durchnässt schlotterten sie vor Kälte. Die kleinen Kinder begannen zu wimmern.

      Sie waren am Ende ihrer Kräfte, als unverhofft die Umrisse eines Bauernhofes auftauchten. Einige Männer pirschten sich heran, um sich zu vergewissern, dass sie die Grenze passiert hatten und wirklich in Belgien waren. Als sie näher kamen, schlug ein Wachhund an. Im oberen Stockwerk ging ein Licht an, und ein Mann mit einem Gewehr spähte aus einem Fenster, um zu sehen, wer da in Nacht und Nebel Einlass begehrte.

      Als er im Schein einer Petroleumlampe erkannte, dass es sich um Männer, Frauen und Kinder handelte, schloss er das Fenster, stieg die Treppe hinunter und bat die erschöpften Wanderer einzutreten. Er hatte offenbar erkannt, dass es sich um Flüchtlinge handelte, sprach das aber mit keinem Wort an. Er entschuldigte sich nur wegen der Flinte, mit der er ihnen gedroht hatte. Man könne in diesen schlechten Zeiten nicht vorsichtig genug sein. Es gebe genügend Strolche, die sich nachts in der Gegend herumtrieben.

      Während er ein Feuer im Herd anzündete, kam eine Frau im Schlafrock hinzu und reichte den Frauen Handtücher und Decken für die Kinder. Für jedes Kind gab es einen Becher Milch. Bald strömte der Duft von echtem Bohnenkaffee durch die Stube, ein Genuss, den es in Deutschland schon lange nicht mehr gab.

      Wie alle anderen waren auch Mendel, Joshua und Roro von dem Marsch sehr mitgenommen. Sie waren mehrmals hingefallen und hatten sich blutige Schrammen geholt. Unter Roros linken Arm war eine Naht geplatzt, sodass Stroh hervorquoll. Als die Mutter den bedauernswerten Zustand des Hasen sah, tröstete sie Joshua, indem sie versprach, die Blessuren mit ein paar Nadelstichen zu behandeln. Nach einem ordentlichen Bad in der Wanne werde Roro wieder ganz der Alte sein.

      Der Bauer eröffnete ihnen, dass sie auf Reinhardshof seien, einem Weiler im Hohen Venn, der seit 1920 zu Belgien gehöre. Er bot ihnen an, sie in die nächste belgische Stadt zum Bahnhof zu geleiten. Von dort könnten sie problemlos ins Innere des Landes reisen. Ob dieser Ankündigung begann eine Frau vor Freude und Erleichterung heftig zu schluchzen. Sie wollte der Bäuerin die Hände küssen, was diese aber zu verhindern wusste. Was sie täten, sei selbstverständlich, sagte die Frau.

      Die Bauersleute machten keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die Nationalsozialisten. Der Bischof von Lüttich habe schon lange vor dem braunen Gesindel gewarnt, ereiferte sich der Hausherr. In Zeiten, da Deutschland von einem hergelaufenen Landstreicher und einer Bande gottloser Burschen regiert werde, würden sie allen helfen, die verfolgt würden – ganz egal um wen es sich handele.

      Als sie am frühen Morgen loszogen, machte Joshua drei weitere Bauernhöfe in der Dämmerung aus. Mit der aufgehenden Sonne wurde es wärmer, und das Moor begann nach den starken Regenfällen der vergangenen Nacht wie eine Waschtrommel zu dampfen. Aus Furcht einer Zollstreife zu begegnen, führte der Bauer sie mitten durchs Moor. Als Wegweiser dienten ihm einige verwachsene Moorbirken und die eine oder andere windschiefe Eberesche. Als sich die Wasserrinnen zu einem Bachlauf sammelten, folgten sie diesem aus dem Sumpfland hinaus bis in dichte Fichtenwälder.

      Nach einigen Stunden erreichten sie, ohne einer Menschenseele begegnet zu sein, eine Stadt, die am Saum des Hertogenwaldes lag. An staunenden Passanten vorbei zog die bunte Truppe schnurstracks zum Bahnhof. Dort verabschiedeten sich die Flüchtlinge von ihrem Führer. Als einige dem Bauern Geldscheine zustecken wollen, lehnte der energisch ab. Er habe nur seine Christenpflicht getan. Dann verschwand er, ohne seinen Namen zu hinterlassen.

      * * *

      Am frühen Abend erreichte die Familie Rozenberg Lüttich. Als die Jungen die vielen Lichter und Leuchtreklamen vor dem Bahnhof sahen, glaubten sie sich wirklich im »Gelobten Land«: Sie hatten es geschafft. Zur Feier des Tages leistete der Vater sich ein Taxi. Er winkte eine der Limousinen, einen Peugeot 402 L, herbei und bat den Chauffeur, sie in die Rue du Parc zu bringen. Als Mendel und Joshua über den breiten Boulevard d’Avroy fuhren, kamen sie sich wie Staatsgäste vor.

      Die Familie Goldstein bewohnte ein solides geräumiges Haus in der Nähe des Parks de la Boverie. Der Empfang war überaus herzlich. Nachdem vor Wochen jeglicher Kontakt abgebrochen war, waren die Goldsteins in Sorge gewesen, ob den polnischen Verwandten die Flucht nach Belgien gelungen war. Mit seinem fusseligen Bart und den langen Schläfenlocken glich der Kantor den galizischen Juden, die Joshua aus Lodz kannte. Wie es die chassidische Tradition verlangte, trug auch Hanna, seine Angetraute, einen bodenlangen schwarzen Rock, eine hochgeschlossene Bluse und eine Perücke.

      Nathan Goldstein und seine Frau boten ihnen unbegrenzte Gastfreundschaft an: Sie gehörten schließlich zur Familie und die »Mischpoche15« ist den Juden heilig. Sie sollten so lange bleiben, bis sie etwas Eigenes, Dauerhaftes gefunden hätten Rozenberg war dafür sehr dankbar, weil er wusste, dass ein fester Wohnsitz bei der Suche nach einem Domizil und bei Behördengängen, die anstanden, um ein Gewerbe zu eröffnen, hilfreich sein würde. Vorübergehend bezogen sie im ersten Stock des Hauses zwei Zimmer.

      Nacheinander trudelten die Kinder des Kantors ein, die neugierig