Schattenkinder. Marcel Bauer

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Название Schattenkinder
Автор произведения Marcel Bauer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783898019002



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einigem Suchen zeigte sich eine andere Kusine, ein älteres Fräulein um die dreißig, die in einer Spinnerei arbeitete, an einer Ehe mit dem Witwer interessiert. Nach einem kurzen Briefwechsel schlossen sie die Ketubba, den in Aramäisch verfassten Ehevertrag ab.

      Mit guten Wünschen versehen trat Hanna Nejmann 1934 die Reise in ein Land an, das der künftige Ehemann als Gelobtes Land beschrieben hatte. Die Ehe schien unter einem guten Stern zu stehen, denn sie war bald mit einem Kind gesegnet. Nach der Geburt eines Sohnes, der den Vornamen Benjamin erhielt, ließ Goldstein seine polnischen Verwandten wissen, er glaube, dass er damit dem göttlichen Gebot, Nachkommen in die Welt zu setzen, um den Fortbestand Israels zu sichern, Genüge getan habe.

      In Rozenbergs Auswanderungsplänen nahm der ferne Cousin einen zentralen Platz ein. Er hegte die Hoffnung, dass Goldstein sich wegen seiner Verdienste bei der Ehestiftung revanchieren und ihm bei einer Übersiedlung behilflich sein werde. Er wurde nicht enttäuscht. Nathan Goldstein versprach, ihn nach Kräften zu unterstützen.

      Damals wanderten viele Polen nach Belgien aus. Sie ließen sich von staatlichen und privaten Agenturen als Arbeitskräfte für das wallonische Kohle- und Stahlrevier anwerben. Die belgische Schwerindustrie erholte sich nur langsam von den Verlusten und Verwüstungen, die der Weltkrieg angerichtet hatte: Für die Arbeit in den Bergwerken und an den Hochöfen wurden vorzugsweise Italiener und Polen eingestellt, weil die im Ruf standen, genügsame, tüchtige und disziplinierte Arbeiter zu sein. Mitte der 30er Jahre lebten im wallonischen Stahlbecken 60.000 Polen. Den Behörden war es gleichgültig, welcher Konfession und Nationalität die Einwanderer waren, solange sie nur gesund und fleißig waren.

      Insofern war Rozenberg guten Mutes, als er im belgischen Konsulat von Krakau vorsprach und einen Antrag auf Einwanderung stellte. Als er im Gespräch freimütig erklärte, er beabsichtige, nicht in einem Bergwerk oder an einem Hochofen zu arbeiten, sondern ein Geschäft zu eröffnen, erfuhr er eine rüde Abfuhr.

      War der Ton bis dahin freundlich gewesen, wurde er mit einem Mal schroff und ablehnend. Man sei nicht gewillt, jüdische Hausierer und Hungerleider ins Land zu lassen. Alle diplo­matischen Vertretungen im Ausland seien angewiesen, ein Einreisevisum nur solchen Kandidaten zu erteilen, die schon einen Arbeitsvertrag mit einem Unternehmen der Schwerindustrie vorweisen konnten.

      Als Rozenberg seinem Cousin von seinem Missgeschick berichtete, ermunterte der ihn, mit seinen Bemühungen fortzufahren und sich nicht entmutigen zu lassen. Es gebe andere, verschwiegene Wege, um nach Belgien zu gelangen. Er habe von gut organisierten Schleusernetzen gehört, die Juden bei der Einreise behilflich seien. Der Kantor versprach, sich bei polnischen Juden umzuhören, die es nach Belgien geschafft hatten, um zu erfahren, wie sie vorgegangen waren. Von ihnen erfuhr er, dass sie die Hilfe deutscher Glaubensbrüder erfahren hatten, die unmittelbar an der Grenze zu Belgien lebten.

      Der Kantor lieferte erstaunliche Details über die »Eifeljuden«. Eine Ortschaft namens Hellenthal diente angeblich als Drehscheibe im organisierten Menschenhandel. Dort, schrieb Goldstein seinem Vetter, gebe es einen Viehhändler namens Karl Haas, der schon viele Juden nach Belgien geschleust habe.

      Um sich ein genaues Bild über die Eifel und die Situation an der Grenze zu machen, suchte Rozenberg die Bibliothek der Großen Synagoge auf und stöberte in Handbüchern und Atlanten. Eines Tages fand er in einer älteren Ausgabe des »Jiddischen Wortes« einen Beitrag über die ominösen Eifeljuden. Demnach hatten sie sich nach der Bartholomäusnacht im Jahre 1346, als die jüdische Diaspora im Rheinland ausgelöscht wurde, in die Eifel und an die Mosel geflüchtet. Obwohl sie auch dort Verboten unterworfen waren, passten sie sich gut ihrer neuen Umgebung an. Viele wurden wohlhabende Bürger und besaßen Grundbesitz. Als die Eifel 1815 an Preußen fiel, wurden alle Beschränkungen, die ihnen bis dahin noch auferlegt waren, aufgehoben.

      Seitdem sie die Bürgerrechte besaßen, gingen sie normalen Berufen nach und genossen besonders als Makler und Händler hohes Ansehen bei ihren christlichen Nachbarn. Auffallend war, dass es unter ihnen viele Metzger und Viehhändler gab.

      In dem Heft gab es eine Landkarte mit dem Verzeichnis jüdischer Gemeinden in der Eifel: Münstereifel, Wittlich, Gemünd, Schleiden und Hellenthal waren die wichtigsten. Aber selbst in winzigen Ortschaften wie Kyll oder Blumenthal gab es Synagogen. Erfreut unterrichtete Rozenberg seinen Vetter, dass er nun wisse, welchen Weg er nach Belgien nehmen müsse.

      Mendel und Joshua blieben die Pläne, die die Eltern schmiedeten, nicht lange verborgen, denn ihr Vater verbrachte von nun an die Abende damit, Landkarten zu studieren und sich eifrig Notizen zu machen. In der freudigen Erregung, Schlupflöcher an der deutsch-belgischen Grenze gefunden zu haben, übersah Rozenberg, dass die rosigen Zustände, die in der Zeitschrift beschrieben wurden, älteren Datums waren. Das »Jiddische Wort« wusste noch nichts von den Repressionen, denen die Eifeljuden seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ausgesetzt waren. Inzwischen gab es die Nürnberger Gesetze, die darauf abzielten, allen Juden die existenzielle Grundlage zu entziehen und das Zusammenleben zwischen Juden und Ariern unmöglich zu machen.

      Um die Jahreswende 1935–1936 traf Rozenberg Vorbereitungen für die Ausreise. Da er ein rechtschaffener Mann war, der sich nicht wie ein Dieb in der Nacht davonstehlen wollte, plante er eine geordnete Übergabe seines Geschäftes. Der Erlös aus dem Verkauf der Schlachterei reichte gerade aus, um die Restschulden bei dem Wucherer zu begleichen. Da er keinerlei finanzielle Reserven besaß, wusste er nicht, wo er die Mittel für eine Existenzgründung in Belgien finden sollte. So sehr er auch rechnete, es langte vorn und hinten nicht.

      Da er mit seinem Schicksal haderte, schlug ihm seine Frau vor, ihre Verwandtschaft in Deutschland zu kontaktieren. Einer ihrer ausgewanderten Verwandten hatte in der Freien Hansestadt Bremen mit dem Handel von Kaffee ein Vermögen gemacht. Sie schlug vor, sich mit ihrem Halbvetter Siegmund Meyer in Verbindung zu setzen, in der Hoffnung, dass er ihnen finanziell unter die Arme greifen werde.

      In Erwartung einer Antwort schwankte die Stimmung im Hause Rozenberg für einige Wochen zwischen Hoffnung und Entmutigung. Groß war die Erleichterung, als der Bremer Kaffeebaron wohlwollend auf die Anfrage der polnischen Kusine reagierte. Er lud sie ein, auf der Durchreise nach Belgien mit der Familie in Bremen Station zu machen. Dort würde man in aller Ruhe die Angelegenheit bereden und das Finanzielle regeln.

      Im Frühsommer des Jahres 1936 war es soweit. Da die Reichsregierung im Rahmen ihrer Bemühungen um eine Revision des Versailler Vertrages gerade einen Schmusekurs mit dem polnischen Nachbarn fuhr, stellte sie problemlos Touristenvisa für die Dauer der Olympischen Spiele aus. Als im Hause bereits riesige Unordnung herrschte, weihten die Eltern ihren ältesten Sohn in ihre Reisepläne ein, während sie den jüngeren weiterhin im Ungewissen ließen, um das Projekt nicht zu gefährden.

      Mendel wollte von den Eltern wissen, warum die Reise ausgerechnet über Deutschland erfolgen sollte. Die polnischen Klassenkameraden würden so schlecht über die Deutschen reden. Der Vater antwortete, das sei der direkte Weg, um nach Belgien zu gelangen. Außerdem redeten nicht nur die Deutschen, sondern auch die Polen schlecht über die Juden. Insofern solle er sich keine Sorgen machen. Es gebe überall gute und böse Menschen. Rozenberg hatte eine positive Sicht der Welt, und die wollte er sich nicht vermiesen lassen.

      * * *

      Am Hauptbahnhof gab es einen tränenreichen Abschied. Alle Freunde und Verwandten hatten sich auf dem Bahnsteig eingefunden. Sogar der Rabbi war gekommen, um ihnen seine Beracha, seinen Segen, für die Reise mitzugeben. Elsa Rozenberg fiel der Abschied von ihren Geschwistern und besonders von der hoch betagten Mutter schwer. Es war, als ahne sie, dass sie sie in diesem Leben nicht wiedersehen würde.

      Bis auf zwei Koffer mit persönlichen Sachen ließen die Rozenbergs alles andere in Polen zurück. Alles sollte so aussehen, als ginge es auf eine Urlaubs- und Vergnügungsreise. Die Einrichtung seiner Metzgerei hatte der Vater unter der Hand verkauft. Möbel und sonstige Geräte und Wertsachen waren in der Verwandtschaft verteilt worden. Von ihrem Hausstand durfte die Mutter nur einige Familienfotos mitnehmen. Die beiden Brüder mussten sich mit einem Spielzeug und einem Buch ihrer Wahl begnügen. Nachdem er sich mit Roro beraten hatte, entschied Joshua sich für ein Bilderbuch mit Burgen und Rittern, während Mendel seinem pragmatischen Temperament entsprechend ein Handbuch für Modelleisenbahnen