Schattenkinder. Marcel Bauer

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Название Schattenkinder
Автор произведения Marcel Bauer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783898019002



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sich um eine Pferdemetzgerei. Da er der Landessprache noch nicht mächtig war, nahm er am nächsten Tag Mendel mit, um mit dem Inhaber zu verhandeln. Der Betreiber sagte, er wolle sich zur Ruhe setzen und sein Geschäft übergeben. Der Verkauf von Pferdefleisch sei nämlich stark zurückgegangen.

      Die Schuld daran gab er den Briten, die im Krieg in Belgien gekämpft hatten. Sie wären ausgesprochene Pferdenarren gewesen und hätten es nicht ertragen, dass solch edle Geschöpfe in die Kochtöpfe wanderten. Die hiesigen Essgewohnheiten hätten sie als Kannibalismus bezeichnet. Mit der Zeit habe die Polemik Wirkung gezeigt. Seit dem Krieg schien das süßlich bis säuerlich schmeckende Fleisch, das doch so nahrhaft sei, selbst den Gruben- und Stahlarbeitern, die nicht wählerisch waren, nicht mehr zu munden.

      Der Standort der Metzgerei kam Rozenberg gelegen, denn Seraing lag zehn Kilometer vor den Toren Lüttichs und bedeutete eine räumliche Distanz zu seinem aufdringlichen und übermächtigen Vetter. Seraing zählte 60.000 Einwohner, darunter viele italienische und polnische Gastarbeiter. Ihre Bewohner nannten ihre Stadt kurz und knapp »Srè«. Dieses »Srää« war keine schöne Stadt, denn selbst im Ortskern gab es Schmelzöfen und Fabrikhallen. Jedes Viertel führte ein Eigenleben, hatte einen eigenen Marktplatz und eine Geschäftsstraße. Die Rue du Buisson lag in einem Viertel, das im Volksmund Quartier Verrière hieß, weil dort viele Glasmacher lebten, die in der Kristallerie du Val St-Lambert arbeiteten.

      Die Stadt Seraing war weit über Belgien hinaus ein Begriff, denn hier stand die Wiege der industriellen Revolution auf dem Kontinent. Am Rathaus hatte man eine Tafel angebracht mit einem Ausspruch des Schriftstellers Victor Hugo, der während seines Exils aus Frankreich die Stadt besucht hatte. »In Seraing stehen die Kathedralen der Neuzeit«, stand auf der Tafel. Der englische Industriepionier John Cockerill hatte im vorigen Jahrhundert das frühere Sommerschloss der Fürstbischöfe erworben und es in eine Eisenhütte verwandelt. Später kamen ein Stahl- und ein Walzwerk, eine Kesselschmiede sowie eine Maschinenfabrik hinzu. In Seraing wurden die allerersten Lokomotiven Europas gebaut.

      Rozenberg wurde sich mit dem Ladeninhaber handelseinig. Im September 1936 kaufte er das Reihenhaus mitsamt seiner Einrichtung. Den Kaufakt tätigten Käufer und Verkäufer in einer Lütticher Kanzlei, die einem Notar Van den Berg gehörte. Da es ihm an Kapital mangelte, sah Rozenberg sich genötigt, für den Hauskauf einen Kredit aufzunehmen, was nur möglich war, weil Nathan Goldstein bereit war, für ihn zu bürgen.

      Den Kredit nahm Rozenberg bei der Privatbank Nagelmackers auf. Nathan Goldstein, der kein ungebildeter Mensch war, klärte seinen polnischen Vetter darüber auf, dass diese Bank nicht irgendeine Bank sei sondern etwas Besonderes. Sie stamme aus dem Jahre 1747. Die Familie Nagelmackers zähle in ihren Reihen bedeutende Bankiers und Politiker und Pioniere des Eisenbahnbaus, die einen weltweiten Ruf genössen.

      Der Lütticher Filialleiter hieß Jean-François Stevens und war – wie Goldstein nicht ohne Stolz vermerkte – mit einem seiner Söhne befreundet. Da er fließend Deutsch spreche, würden viele Israeliten, zu seinen Kunden zählen. Wie Rozenberg es mit Siegmund Meyer vereinbart hatte, richtete der Metzger neben seinem laufenden auch ein Sperrkonto ein, auf das er die monatlichen Raten für das bei ihm geliehene Geld einbezahlte.

      Das Reihenhaus war um die Jahrhundertwende erbaut worden. Im Erdgeschoss war neben der Haustüre ein großes Schaufenster. Hinter dem Metzgerladen befanden sich die eigentliche Schlachterei und ein Vorratsraum. Im Obergeschoss gab es drei Zimmer und im Dachgeschoss zwei weitere Kammern. Das Haus war mit allem Komfort ausgestattet. Anders als in dem Mietshaus, das sie in Lodz bewohnt hatten, wo es nur einen Wasserkran im Flur gegeben hatte, verfügten alle Schlafzimmer über fließendes Wasser. Statt eines Plumpsklos im Hof gab es auf halber Treppe zwischen Erd- und Obergeschoss in einem Erker ein Wasserklosett. Es schwebte wie ein Schwalbennest über dem Innenhof. Auf dem stillen Örtchen war es recht gemütlich und Joshua verbrachte dort viel Zeit, vor allem wenn er sich vor häuslichen Arbeiten drücken wollte.

      Das Höfchen wurde bald zu Mendels und Joshuas bevorzugtem Spielplatz. Hier konnten sie ungestört mit ihren Zinnsoldaten spielen oder in einem vom Vater gebastelten Holzkasten Sandburgen bauen, ohne dass die Nachbarn Einblick hatten. Joshua kam eines Tages auf die Idee, dort ein Terrarium einzurichten. Bald sammelte er in der Umgebung alles, was da kreucht und fleucht.

      In seinem Privatzoo gab es Raupen, Regenwürmer, Schmetterlinge, Heuschrecken, Blattläuse, Marienkäfer und andere Insekten. Als Käfige dienten alte Einmachgläser, die ihm die Mutter überlassen hatte. Joshua fütterte sie mit Gras und Blattwerk. Er verbrachte viele Stunden damit, das Treiben der Tierchen zu beobachten, sodass sein Bruder ihn spöttisch nach einem berühmten Naturforscher Professor Joshua Picard nannte.

      Wie in der alten Heimat herrschte auch in der neuen eine klare Arbeitstrennung zwischen Vater und Mutter. Während Ariel Rozenberg seinen Geschäften nachging, schaltete und waltete seine Frau Elsa im Hause nach Gutdünken. Ihr oblag die Erziehung der Söhne. Ariels Verhältnis zu seinen Söhnen war eher pragmatischer Natur. So gut wie möglich ging man sich gegenseitig aus dem Weg.

      Das einzige private Vergnügen, das der Vater sich gönnte, war das Trompete blasen. Das Instrument hatte er gegen alle Widerwärtigkeiten bis nach Belgien gebracht. Nachdem er eine Weile alleine gespielt hatte, spürte er das Verlangen einer Blaskapelle beizutreten. Da es für ihn undenkbar war, bei einer Kapelle, die unter der Fahne der katholischen Kirche auftrat, mitzumachen, trat er schließlich der Harmonie »Polonia« bei, obwohl die meisten Mitglieder überzeugte Kommunisten und Trotzkisten waren.

      Beim Einzug ins neue Heim überraschte Rozenberg die Familie mit einem Röhrenradio. Das Rundfunkgerät erhielt einen Ehrenplatz auf der Nähmaschine in der Wohnküche, die Leewi Goldstein der Mutter günstig auf dem Schwarzmarkt besorgt hatte. Die Mutter häkelte ein Deckchen und stellte rund um das Radio Familienfotos und zwei Blumentöpfchen auf, sodass alles wie ein kleiner Hausaltar aussah. Von nun an war man über Kurzwelle mit der weiten Welt verbunden. Am Sonntagabend gab es im Radio die Sportresultate, die am Montag in der Schule eifrig kommentiert wurden.

      * * *

      Die ersten Jahre in Belgien waren glücklich und unbeschwert. 1937 wurde Joshua eingeschult. Die Gemeindeschule war nach dem Pädagogen und Lokalpolitiker Léon Deleval benannt und lag in der gleichnamigen Straße. Als sich der erste Schultag näherte, versuchte die Mutter, ihm klarzumachen, dass er nun ein großer Junge sei und es an der Zeit wäre, sich von seinem Spielkameraden zu verabschieden. Bisher hatte sie geduldet, dass er sein Stofftier überall mitnahm und wie ein Lebewesen behandelte. Nun sei es an der Zeit, solche Kindereien abzulegen. Auf keinen Fall dürfe Roro mit in die Schule. Das schicke sich nicht.

      Joshua wollte davon nichts hören. Gegen den Rat der Mutter schmuggelte er den Hasen in seinem Schulranzen ins Klassenzimmer. Als Schulkameraden ihn entdeckten, gab es Schmähungen und sogar Handgreiflichkeiten, sodass Joshua um Roros Leben fürchten musste. Danach hielt er es für klüger, ihn daheim zu lassen.

      Während Joshua das Einmaleins und das Alphabet lernte, saß Roro mürrisch und untätig daheim. Abends beschwerte er sich bei Joshua, dass er sich langweile und aus dem Radio den ganzen Tag über Schlager und Schnulzen von Luis Mariano, Toni Rossi oder Ray Ventura anhören müsse, von denen ­Joshuas Mutter nicht genug bekam. Joshua schlussfolgerte daraus, dass Roro wissbegierig war. Um ihn zu beschäftigen, gab er ihm Papier und Malstifte, damit er sich zerstreuen konnte. Nach Schulschluss schaute Roro Joshua bei den Hausaufgaben über die Schultern. Auffallend war, dass er ständig an Klugheit und Verstand zunahm.

      Die ersten Wochen waren für die Brüder Rozenberg schwierig, weil sie daheim nur Jiddisch sprachen, in der Schule aber Französisch und auf dem Pausenhof Wallonisch gesprochen wurde. Aber anders als in Polen, wo sie als Juden auf die hinteren Schulbänke verbannt und von den Lehrern weitgehend ignoriert worden waren, waren sie hier willkommen. In der Masse der Einwanderer und Wanderarbeiter fielen sie nicht auf. Antisemitismus gab es in Wallonien schon deswegen nicht, weil es kaum Juden gab. Die einzigen Kinder, die auf dem Schulhof gehänselt wurden, waren kleine Flamen, die als »dumme Bauerntrampel« beschimpft wurden und es daher vorzogen, auf dem Schulhof unter sich zu bleiben.

      Mendel entwickelte sich zum Klassenprimus. Der Schulträger entsandte ihn als seinen Vertreter auf interschulische Wettbewerbe, von