Schattenkinder. Marcel Bauer

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Название Schattenkinder
Автор произведения Marcel Bauer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783898019002



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Nathans erster Ehe stammten vier Kinder: Leewi, der älteste Sohn, war ein Hausierer, der von Haus zu Haus zog und mit Knöpfen, Reißverschlüssen und Garn handelte. Er war ein lebenslustiger Geselle und hatte ein ausgefallenes Hobby: er züchtete Kanarienvögel. Hirsch, der zweitälteste Sohn, war der Stolz des Vaters. Er studierte im vierten Semester Zahnmedizin an der Universität. Die Tochter Bad-Sebah war Verkäuferin in der Schuhabteilung eines großen Kaufhauses und mit Aaron Rubinstein, einem Grubenarbeiter, verlobt. Elias, der jüngste Sohn aus erster Ehe, den alle Fred nannten, ging noch zur Mittelschule. Fred war das Enfant terrible der Familie. Schließlich gab es noch aus Nathans zweiter Ehe mit Hanna Nejmann den vierjährigen Benjamin. Mit seiner Namenswahl hatten die Eltern dem Allerhöchsten signalisieren wollen, dass es nun genug sei mit dem Kindersegen.

      Das Haus lag ganz in der Nähe der Synagoge. Mangels eines Rabbis leitete Goldstein als Chasan16 den Gottesdienst am Schabbat17. Schon Nathans Vater Noah, der vor der Jahrhundertwende aus Kongresspolen eingewandert war, hatte das Amt des Vorbeters ausgeübt. Damals versammelten sich die Lütticher Juden noch in Privathäusern. Die prächtige Synagoge in der Rue Léon-Frédericq war erst um die Jahrhundertwende auf einer Flussinsel erbaut worden. Als Joshua sie zum ersten Mal erblickte, war er überwältigt. Die Fassade, die orientalische und italienische Elemente in sich vereinte, erinnerte eher an ein verwunschenes Märchenschloss als an ein jüdisches Gebetshaus.

      Nathan Goldstein, der wie sein Vater den Beruf eines Schusters ausübte, zeichnete sich durch besondere Frömmigkeit aus. Ohne größere Studien absolviert zu haben, verstand er es, die Thora so auszulegen, dass sie einen konkreten Bezug zum Alltag der Menschen hatte. Aber in der Auslegung der Heiligen Schriften war er unerbittlich. Von den Gläubigen wurde er respektvoll »Rabbi« genannt, was ihm nicht zustand, aber ihm sichtlich schmeichelte. Goldstein war nicht irgendein namenloser Chasan. Er hatte sich als Autor verschiedener Hymnen, die nicht nur in Lüttich sondern auch in anderen Synagogen übernommen wurden, einen Namen gemacht.

      Die jüdische Gemeinde in Lüttich war klein und überschaubar. Die ersten Juden, die sich in der Maasmetropole niedergelassen hatten, stammten aus den Niederlanden. Nach dem Krieg war die Zahl der Gläubigen angewachsen, weil die Lütticher Hochschulen viele ausländische Studenten anzogen. Darunter waren etliche Juden aus Osteuropa und vom Balkan, die in ihren Heimatländern einem Numerus clausus unterlagen. Bei den Neuankömmlingen handelte es sich meist um säkulare und liberale Juden, deren religiöse Kultur minimal war. Insofern fristete die Lütticher Gemeinde weiterhin ein kümmerliches Dasein, bis immer mehr gläubige Juden aus Osteuropa einwanderten. Mit der Ankunft polnischer Juden stieg die Gemeinde sprunghaft auf 2.560 Mitglieder an.

      In den ersten Jahren besuchte an hohen Festtagen ein Rabbi aus den Niederlanden die Gemeinde. 1938 erhielt Lüttich mit Efraim Dombrowicz endlich einen eigenen Rabbiner. Zu dessen Aufgaben zählte die Durchführung der vorgeschriebenen Rituale bei Beschneidung, Trauung und Beerdigung. Seine Ernennung war eine Erleichterung für die Gläubigen, da sie nun nicht mehr für jede größere Amtshandlung die Synagogen in Brüssel oder Antwerpen aufsuchen mussten.

      Die Ankunft des Rabbis führte zu Reibereien mit dem Kantor, weil Nathan Goldstein sich in seinem Amt und seiner Autorität geschmälert sah. Anders als Goldstein hatte Dombrowicz in Polen eine Jewiche18 besucht und an dieser religiösen Hochschule die Thora19 und den Talmud20 studiert. Er schien daher eher dazu geeignet zu sein, eine Gemeinde zu leiten.

      Damit musste der Kantor das angesehene Amt eines Vorbeters, das er bisher wahrgenommen hatte, abtreten und sich mit der Rolle eines Organisten und Vorsängers begnügen. Auch die Leitung des Cheders21, der Thoraschule, fiel nun in die Verantwortung des niederländischen Rabbis. Die Leitung eines Cheders war ein einträgliches Amt, denn die Eltern mussten für ihre Sprösslinge Schulgeld zahlen. Von seinen früheren Ämtern blieb Goldstein am Ende nur das eines Mohels22, eines Fachmanns für rituelle Beschneidungen, übrig.

      Von einem Kantor durfte man nicht nur eine gute Stimme und eine gründliche Kenntnis der Liturgie erwarten, sondern auch eine repräsentative Frömmigkeit und ein einwandfreies Verhalten. Entsprechend hatten sich auch die Mitglieder seiner Familie aufzuführen. Ohne dies ausdrücklich auszusprechen, erwartete Nathan Goldstein, dass sich seine polnischen Gäste als fromme Juden gebärdeten. Er achtete darauf, dass die vorgeschriebenen Gebetszeiten von allen Hausgenossen eingehalten wurden. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem gemeinsamen Abendgebet am Vorabend des Schabbats.

      Im Hause Goldstein tauchte Joshua in die chassidische Frömmigkeit ein, wobei der Kantor sich als strenger Lehrmeister und Joshua als gelehriger Schüler erwies. Anders als sein Bruder Mendel, der nie um eine Ausrede verlegen war, um sich vor einer Gebetsübung zu drücken, begleitete Joshua den Onkel öfter zum Schacharif23, dem Morgengebet, in die Synagoge. Wenn er morgens mit dem Kantor in seinem schwarzen Kaftan und dem Hut aus Zobelfell auf dem Kopf loszog, begegneten ihnen nirgends feindselige, sondern höchstens verwunderte Blicke. Nie gab es Beschimpfungen oder Anpöbelungen, wie Joshua es in Polen erlebt hatte.

      In der Synagoge beobachtete Joshua, wie der Onkel den weißen Gebetsmantel anlegte und sich die Gebetsriemen um Arme und Stirn band, bevor er die Schriftrollen aus dem heiligen Schrein holte. In der Synagoge fanden sich morgens einige alte Männer ein, um mit dem Kantor die Psalmen, das Schma Jisrael24, und das Achtzehnbittengebet, das Schmone Esre, anzustimmen.

      Wenn die Männer sangen, wippten sie mit dem Oberkörper hin und her, als wären sie angetrunken. Die Männer hielten Bücher mit Goldrand in ihren Händen. Joshua hätte sich gerne eines mit nach Hause genommen, aber Onkel Nathan meinte, dafür sei er noch zu klein, weil er noch nicht einmal lesen könne.

      Der Onkel besaß eine warme Baritonstimme. Sein Gesang war sehr gefühlsbetont. Offenbar legte er wenig Wert auf die Bedeutung des gesungenen Liedes, denn viele Gesänge beschränkten sich auf ein einziges Wort oder einige Silben, die der Kantor manchmal bis zur Ekstase wiederholte. Die Geräusche, die er dabei ausstieß, erinnerten Joshua an das Gebrabbel und Glucksen von Säuglingen.

      Als Joshua einmal nach dem Sinn dieser Übung fragte, belehrte der Onkel ihn, dass der Mensch sich dem Allmächtigen am ehesten nähern könne, wenn er seine Gebete als kindliches Gestammel vortrage. Das ständige Kopfnicken und das Schaukeln mit dem Oberkörper hülfen der Seele, das Alltägliche zu verdrängen und mit dem Allmächtigen eins zu werden.

      Joshua war von dem, was er in der Synagoge hörte und sah, beeindruckt. Wenn er sich unbeobachtet glaubte, plapperte er einzelne Silben, die er in der Synagoge aufgeschnappt hatte, nach, wobei er nach Art frommer Juden mit dem Oberkörper schockelte25. Roro hielt das alles für Firlefanz. Er mochte den Kantor und seine aufgeblasene Sippe nicht und machte dies auch gegenüber Joshua deutlich: Als dieser ihn nach den Gründen fragte, sagte Roro, er habe eines Tages mitbekommen, wie der Schuster bei seiner Frau darüber lästerte, dass der jüngste Sohn des Metzgers ein unreines Tier als Schmusetier habe. Daran sähe man, wie es um die Frömmigkeit des Metzgers und seiner Familie bestellt sei.

      * * *

      Unterdessen war Ariel Rozenberg bemüht, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, was die Voraussetzung für die Eröffnung eines Gewerbes war. Da Nathan Goldstein, der die belgische Staatsangehörigkeit besaß, ihn als Schustergesellen eingetragen und ihm so ein Bleiberecht erwirkt hatte, konnte er sich bald auf die Suche nach einer passenden Immobilie machen.

      Tagelang streifte er durch die Innenstadt und die Peripherie. Anders als in Polen wurden in Belgien Mietangebote, Hauskäufe und Geschäftsübergaben nicht über Inserate in Zeitungen oder Agenturen angeboten, sondern durch Aushänge an Türen und Fenstern. Wenn Rozenberg ein interessantes Objekt entdeckte, schob er einen Brief in den Briefkasten, der sein Anliegen erklärte, in der Hoffnung, dass man darauf reagierte.

      Die wirtschaftliche Situation war für Geschäftsgründungen nicht gerade günstig. Im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 war die Arbeitslosigkeit innerhalb weniger Jahre drastisch angestiegen: von 15.000 Arbeitssuchenden auf 213.000. Gleichzeitig sanken die Löhne. In den 30er Jahren verdiente ein Arbeiter weniger als sein Vater oder Großvater. Im Lütticher Kohlerevier mussten sogar einige Zechen schließen. Gleichzeitig wurden moderne Kokereien eingeführt, die weniger Personal erforderten, was wiederum zu erbitterten Streiks führte.

      Eines