Schattenkinder. Marcel Bauer

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Название Schattenkinder
Автор произведения Marcel Bauer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783898019002



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Munde abgespart hatte. Seine beiden Schächtmesser, die unentbehrlichen Werkzeuge seines frommen Gewerbes, hatte die Mutter ins Futter eines der beiden Koffer eingenäht, um Schwierigkeiten am Zoll zu vermeiden.

      Von Lodz aus ging es über Posen nach Frankfurt an der Oder und von dort weiter nach Berlin. Die Passkontrolle an der deutsch-polnischen Grenze bei Neu Bentschen erfolgte reibungslos. Die Schaffner waren höflich und zuvorkommend. Der Vater musste allerdings seinen gepolsterten Trompetenkasten öffnen, weil der Beamte sichergehen wollte, dass es sich wirklich um einen Behälter für ein Instrument handelte und nicht um ein Versteck für illegale Waren.

      Im Rückblick kam es Joshua vor, als habe die Reise nicht siebzehn Stunden sondern eine Ewigkeit gedauert. Seinen Plüschhasen hatte er zwischen die Koffer auf dem Gepäckständer gesetzt, damit er aus luftiger Höhe alles genau verfolgen konnte, was sich im Zugabteil abspielte.

      Mendel hatte seinem Bruder das Denk- und Ratespiel »Schiffe versenken« beigebracht. Mendel kommandierte die deutsche, Joshua die englische Kriegsflotte. Es gelang Joshua auf Anhieb, einen Zerstörer Mendels sowie eine Fregatte zu versenken. Als er dann auch noch das Prunkstück von Mendels Flotte, das Schlachtschiff der Bismarck-Klasse, traf, war Mendel erbost. Er beschuldigte Roro, von seiner hohen Warte aus Joshua die entsprechenden Tipps zu geben und verlangte, dass er seinen Platz wechselte. Bevor der Streit zwischen den Jungen eskalierte, schritt der Vater ein.

      Bei der nächsten Fahrscheinkontrolle entdeckte ein Schaffner den Hasen in der Gepäckablage, sprach von einem blinden Passagier und verlangte dessen Fahrschein zu sehen. Während der Vater auf Polnisch eine Entschuldigung stammelte und schon nach seinem Portemonnaie griff, weil er mit einer saftigen Ordnungsstrafe rechnete, lachte der Beamte auf und sagte, es sei alles nur ein Scherz gewesen. Joshuas Vater war trotzdem verärgert. Er meinte, das blöde Stofftier bereite nur Scherereien und mache die Familie lächerlich. Joshua schloss daraus, dass er umsichtiger sein müsse, um Roro keinen unnötigen Gefahren auszusetzen.

      Als sie den Schlesischen Bahnhof in Berlin erreichten, fanden sie sich in einem Fahnenmeer wieder. Im Hinblick auf die Olympischen Sommerspiele waren die Bahnsteige nicht nur mit der olympischen Fahne und der Hakenkreuzflagge, sondern mit den Fahnen aller teilnehmenden Nationen geschmückt. Aus Lautsprechern dröhnte die olympische Hymne. Die Besucher, die zum Fest der Völker anreisten, sollten einen guten Eindruck vom Dritten Reich bekommen. Alles sollte festlich und freundlich wirken.

      Über Hannover erreichten sie die Hansestadt Bremen. Übermüdet, aber erleichtert verließen sie den Centralbahnhof. Wie der Vetter es beschrieben hatte, befanden sich auf dem Vorplatz des Bahnhofes die Haltestellen der Straßenbahnlinien 2 und 3, die zum Bremer Ostertor fuhren. Bis zur Humboldtstraße, wo die Meyers wohnten, waren es nur noch einige Fußminuten.

      Der Besuch bei der deutschen Verwandtschaft hinterließ einen zwiespältigen Eindruck. Konsul Meyer und seine Familie bewohnten ein repräsentatives Stadthaus aus der Gründerzeit. Die Eingangshalle war so groß, dass man darin hätte Federball spielen können. Der Hausherr erwartete sie wie ein Feldherr auf der Empore zum Obergeschoss. Konsul Meyer war eine Respekt einflößende Erscheinung, hochgewachsen und herrschaftlich im Auftreten. Er trug einen etwas aus der Mode gekommenen Zwirbelbart, wie Kaiser Wilhelm ihn getragen hatte.

      Der Konsul empfing die polnischen Gäste im Jagdzimmer. Der große Raum auf der Beletage war unterteilt: auf der einen Seite stand ein Billardtisch, der so groß und hoch war, dass ­Joshua kaum über den Rand gucken konnte. In der Mitte lagen in einem dreieckigen Rahmen neun weiße Kugeln bereit, davor eine rote Kugel. An den Kreidewürfeln konnte man erkennen, dass es schon lange her war, dass jemand gespielt hatte.

      An den Zimmerwänden hingen Jagdtrophäen, Hirsch- und Rehgeweihe sowie der mächtige Kopf eines Keilers. Eigentlich, klärte der Hausherr seine Gäste auf, sei er immer noch ein leidenschaftlicher Waidmann, aber seit dieser fette Parvenü von Göring Reichsjägermeister geworden sei und das christliche Kreuz im Geweih des Hirsches durch ein Hakenkreuz habe ersetzen lassen, mache ihm das Weidwerk keine Freude mehr.

      Seine Frau erzählte hinter vorgehaltener Hand, dass man ihren Mann nach Einführung des Arierparagrafen aus der Lüneburger Jägerschaft ausgeschlossen habe, was er nicht verschmerzt habe.

      Auf der anderen Seite des Raumes gab es eine Leseecke mit Polstermöbeln. Die Wände waren ganz mit Bücherregalen zugestellt. Gegenüber stand ein Flügel, auf dem die Tochter des Hauses ihre Partituren übte. Über dem Klavier hing eine Fotogalerie. Auf einem Foto war die Tochter Hedwig bei ihrer Konfirmation zu sehen, ein anderes zeigte den Hausherrn in der Uniform eines Leutnants des Infanterieregiments »Bremen«. Auf seiner Brust prangte das Eiserne Kreuz, das ihm für Tapferkeit vor dem Feind verliehen worden war. Als er die fragenden Blicke der Jungen bemerkte, begann der Konsul lang und breit von seinen Kriegserlebnissen zu erzählen.

      Als Reservist hatte er sich im August 1914 freiwillig gemeldet. Er war mit dem 1. Hanseatischen Regiment an die Westfront gezogen und hatte bei Noyon in Nordfrankreich seine Feuertaufe bestanden. Sein Regiment habe im Stellungskrieg schwere Verluste erlitten, was seiner Überzeugung, dass er für eine gerechte Sache kämpfte und am Ende den Sieg davontragen werde, nichts anhaben konnte. Leider war es aber anders gekommen. Die Schuld dafür wies Meyer unfähigen Politikern zu, die den kämpfenden Truppen in den Rücken gefallen seien.

      Meyers Ehefrau Gerda war eine geborene Scholl und stammte aus gutem hanseatischem Hause. Neben Hedwig gab es noch den jüngeren Sohn Emil, ein aufgeweckter Junge in Joshuas Alter. Die Kinder begegneten ihren Eltern voller Respekt und redeten sie nur in der dritten Person an.

      Emil hatte einen goldbraunen Teddybären, der Petsy hieß, ein drolliges Kerlchen, das allerlei lustige Geschichten zu erzählen wusste und immer zu Späßen aufgelegt war. Sehr stolz war das Bärchen auf den Knopf in seinem linken Ohr. Das zeichne ihn vor allen anderen Teddybären aus, klärte er den Plüschhasen auf. Die beiden freundeten sich an, obwohl Roro von Natur aus eher reserviert war.

      Als Vertreter des hanseatischen Bürgertums und Mitglied des Deutschen Kaffeevereins war der Konsul sich seiner gesellschaftlichen Stellung bewusst. Um diese zu betonen, gab er sich Mühe, wie ein preußischer Junker zu näseln und redete in der Familie vorzugsweise Bremer Schnack, den örtlichen Dialekt. Man merkte ihm an, dass es ihn einige Überwindung kostete, Jiddisch zu reden, das er nur mangelhaft beherrschte. Von Mendel und Joshua ließ er sich mit »Oheim« anreden. Die Jungen mochten diesen deutschen Onkel wegen seiner überheblichen und herablassenden Art nicht sonderlich. Sie machten sich einen Spaß daraus, ihn abends auf ihrem Zimmer zu parodieren und nachzuäffen.

      Meyers Frau war sehr viel umgänglicher als ihr Mann. Sie verstand sich auf Anhieb gut mit Joshuas Mutter. Während die Männer in der Bibliothek über hohe Politik redeten und die Kinder im Garten spielten, hielten die Frauen nebenan ihren Kaffeeklatsch. Da Joshuas Mutter von Hause aus gut Deutsch sprach, konnten sie sich zwanglos unterhalten.

      Gerda Meyer klagte darüber, dass sie ohne Haushaltshilfe auskommen mussten, weil es Juden durch die Nürnberger Rassengesetze verboten war, Nicht-Juden als Hauspersonal anzustellen. Noch schmerzlicher seien die beruflichen Einschnitte, die ihr Mann in seinem Geschäft erfahren habe. Man habe ihn im Rahmen der Arisierung gezwungen, seine Anteile am Unternehmen, das seinen Namen trug, zu einem Schleuderpreis zu veräußern. Aber man habe ihn nicht entlassen, sondern auf einen untergeordneten Posten abgeschoben, weil er über viele Kontakte ins Ausland verfügte, die über die Jahre gewachsen waren und die für das Unternehmen unerlässlich waren.

      Sie sagte, das antisemitische Klima, das sich selbst in der feinen hanseatischen Gesellschaft breitmache, mache ihrem Mann zu schaffen. Er leide sehr unter den Anfeindungen, die er auf offener Straße erfuhr. Hatten früher die Nachbarn artig den Hut gezogen, wenn sie dem Herrn Konsul begegneten, titulierten Lausbuben aus der Nachbarschaft ihn nun ungestraft als »Saujuden« oder »Judensau«. Vermutlich war diese Demütigung ein Grund dafür, dass Meyer sich auf seine jüdischen Wurzeln besann und bereit war, seinen entfernten Verwandten eine finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.

      Siegmund Meyer erging sich gerne in weitschweifigen Erörterungen, die er mit zahlreichen historischen Bemerkungen und Anekdoten spickte. Ariel Rozenberg war ein dankbarer Zuhörer, umso mehr als er nicht alles verstand, was der Konsul zum