Название | Schattenkinder |
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Автор произведения | Marcel Bauer |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783898019002 |
Die Rozenbergs wohnten in Gorna, einem Viertel mit gemischter Bevölkerung: Neben Juden und Polen gab es dort noch viele Volksdeutsche, im Volksmund Schwob oder Szwaby genannt. Zu diesen zählte auch Joshuas Mutter Elsa, geborene Meyer. Sie war die Tochter eines jüdischen Tuchhändlers und einer deutschen Mutter, die ihrerseits von schlesischen Webern abstammte, die im 19. Jahrhundert eingewandert waren.
Eigentlich hieß sie mit Vornamen Ruth, aber ihre Eltern hatten sie von klein auf Elsa gerufen. Die Meyers waren eine weit verzweigte Familie, die die deutsche Kultur angenommen hatte. Elsa Rozenberg betrachtete sich zwar als Jüdin, war aber nicht sonderlich religiös, was nichts daran änderte, dass sie in allem dem entsprach, was man mit einer »jiddischen Mame« verbindet. Ihr gingen das Wohlergehen und das Glück ihrer Familie über alles.
Joshua liebte seine Mutter abgöttisch. Sie war ein richtiger Wonneproppen. Er erinnerte sich gerne daran, wie er als kleiner Junge bei Gewitter zu ihr ins Bett gekrochen war und sie ihn dann so fest an ihre gewaltigen Brüste drückte, dass er glaubte, ersticken zu müssen. Als er sie einmal fragte, wozu diese schwabbeligen Dinger eigentlich dienten, strich sie ihm sanft durch die Haare und sagte, dass der Allmächtige die Frauen Israels mit großen Busen ausgestattet habe, damit ihre Kinder ein Ruhekissen hätten, wenn das auserwählte Volk auf seiner langen Wanderung durch die Wüste eine Rast einlegte.
Ariel Rozenberg, Joshuas Vater, kam aus Ostpolen und stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Er hatte lange um Elsa Meyer geworben. Obwohl sie von kräftiger Statur war, während er eher klein und schmächtig war, hatte sie ihn wegen seines Fleißes und seiner Redlichkeit zuerst schätzen, dann lieben gelernt. Wie es der Anstand verlangte, ließ sie ihre deutsche Herkunft und ihre höhere Bildung nie durchschimmern und ließ ihm in der Öffentlichkeit den Vortritt, obwohl er neben ihr eher wie ein erwachsener Sohn als wie ein Ehemann aussah. Dafür durfte sie in den eigenen vier Wänden nach Gutdünken schalten und walten. Unangefochten schwang sie daheim das Zepter, egal ob es die Form eines Kochlöffels oder eines Staubwedels hatte.
Nach der Neugründung Polens 1920 hatten viele Volksdeutsche das Land verlassen. Viele kultivierte Juden, die zum aufstrebenden Bürgertum gehörten, schlossen sich ihnen an und zogen nach Berlin, Breslau und in andere deutsche Großstädte.
Elsa Rozenberg legte großen Wert darauf, dass ihre Söhne eine deutsche Schule besuchten. Erst als diese wie viele andere im Lande auf Druck der polnischen Kulturbehörde schließen musste, wechselte ihr ältester Sohn Menahim auf eine polnische Schule. Das behagte ihm nicht, denn es kam häufig vor, dass er als »niemiecki Zyd«, als deutscher Jude, von seinen Klassenkameraden gehänselt wurde. Von den Lehrern fühlte er sich benachteiligt.
Die Erziehung der Söhne überließ Rozenberg seiner Frau. Diese bezeichnete ihre Sprösslinge als Beracha, als einen Segen des Allmächtigen. Der Vater griff in die Erziehung nur dann ein, wenn ihm etwas gegen den Strich ging – etwa bei dem Zinnober, das Joshua um seinen Stoffhasen veranstaltete.
Es missfiel ihm, dass der Junge ihn überall mitnahm, sich angeregt mit ihm unterhielt und ihn wie ein menschliches Wesen behandelte. Der Bursche ist nicht leicht zu handhaben, pflegte der Vater zu sagen, womit er das Plüschtier meinte. Er konnte es nicht lassen, sarkastische Bemerkungen über Joshuas ständigen Begleiter zu machen und allerlei Hasenwitze zu erzählen.
Einer handelte von einem Hasen, der in einer Apotheke nach Möhren fragt. »Nein, ich habe keine Möhren«, antwortet der Apotheker. Der Hase kommt tags darauf wieder und fragt: »Had du Möhren?« – »Nein, ich habe keine Möhren.« So geht es die ganze Woche, bis der Apotheker am Ende verzweifelt ein Schild an die Tür hängt: »Möhren ausverkauft!« Der Hase macht dem Mann daraufhin Vorhaltungen: »Ich wusste es, du bist ein schäbiger Lügner. Had du doch Möhren gehad!«
Joshua ließ sich von solchen Hänseleien nicht beeindrucken, aber Roro war jedes Mal beleidigt, weil er es nicht mochte, dass man ihn für blöd hielt. Joshua wunderte sich manchmal, wie eingenommen Roro von sich selbst war. Der Hase ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er etwas Besonderes sei. Angeblich stammte er in direkter Linie von Meister Lampe, dem Stammvater aller Hasen, ab. Er legte Wert darauf, dass Joshua seine einzelnen Körperteile korrekt benannte. Ein Feldhase, belehrte er ihn, habe keine Ohren, sondern Löffel, keine Beine, sondern Sprünge. Statt eines Fells habe er einen Balg, statt Augen Seher. Besonders stolz war er auf seine Hasenscharte, die seine Oberlippe in zwei gleiche Hälften teilte.
Vater Rozenberg unternahm mehrere Anläufe, um seinen Sohn bezüglich des Hasen zur Räson zu bringen. Als das nichts fruchtete, beschlossen die Eltern, ihn für eine gewisse Zeit aus dem Verkehr zu ziehen.
Tatsächlich war Roro eines Tages spurlos verschwunden. Die Mutter erzählte, der Hase habe beschlossen, sein eigenes Leben zu führen und sei ausgewandert. Doch Joshua durchschaute das Manöver, durchsuchte das ganze Haus und nörgelte so lange, bis die Mutter schließlich nachgab und den Hasen wieder herausrückte. Nach diesem Vorfall fanden die Eltern sich damit ab, dass ihr jüngster Sohn ein problematisches Verhältnis zu einem blauen Stoffhasen hatte.
Von den dreieinhalb Millionen Juden in Polen sprachen die allermeisten Jiddisch, was in polnischen Ohren verdächtig deutsch klang. Nach dem Tod des Staatsgründers Józef Piłsudski, der sich um ein gutes Verhältnis zwischen den verschiedenen Volksgruppen bemüht hatte, kam es zu antisemitischen Übergriffen. Die Israeliten wurden mehr und mehr aus dem öffentlichen und wirtschaftlichen Leben gedrängt, ihren karitativen und kulturellen Einrichtungen wurde jegliche Unterstützung entzogen.
Für Mendel bedeutete das, dass er aus dem Schachclub Rochade, die ihre wöchentlichen Wettkämpfe in der städtischen Bibliothek austrug, verwiesen wurde. Ab 1935 waren höhere Ränge in der Armee und Karrieren im Staatsdienst den Juden verwehrt. An den Universitäten wurde ein Numerus clausus verhängt.
Joshuas Vater betrieb in Gorna, wo es neben säkularen viele strenggläubige Juden gab, eine koschere7 Metzgerei, die »Kol Tiv – Das Beste für Sie« hieß. Rozenberg war Schächter8 und Metzger in einer Person. Das rituelle Schächten hatte er bei einem Onkel erlernt. Um ein von der Religionsbehörde anerkannter Schochet9 zu werden, bedurfte es einer speziellen Ausbildung. Die Vorschriften für die Ausübung des Berufes verlangten, dass man sich in den Geboten Mose genauso gut auskannte wie im Umgang mit den Schlachttieren. Zur Geschäftsgründung hatte die Mutter dem Vater zwei handgeschnitzte Schächtmesser geschenkt. Die Griffe waren mit Rinderköpfen sowie Gänsen und Truthähnen verziert.
Bei der Geschäftsgründung hatte Rozenberg sich hoch verschuldet. Da er als Jude von der polnischen Genossenschaftsbank keinen Kredit bekommen hatte, hatte er sich das nötige Kapital bei einem jüdischen Wucherer geliehen. Anfangs verlief alles zu seiner Zufriedenheit, aber nach 1935 verschlechterte sich seine wirtschaftliche Situation, weil viele Kunden auswanderten.
Der traditionelle Antisemitismus schlug hohe Wellen. Immer wieder geschah es, dass Juden auf offener Straße angepöbelt, einige sogar umgebracht wurden, ohne dass die Behörden eingriffen. Als es in Lodz zu Plünderungen jüdischer Geschäfte kam, dachte Rozenberg darüber nach, Polen zu verlassen.
Die Idee nahm mit der Zeit immer konkretere Formen an. Von der allgemeinen Verunsicherung der Juden profitierten vor allem die Zionisten, die kräftig Werbung für eine Auswanderung nach Palästina machten, um Eretz Israel10 wieder aufzubauen. Rozenberg hielt das alles für ein Hirngespinst. Er verspürte keine Lust, »Ananas in der Wüste zu züchten«, wie er es formulierte. Er träumte von einer neuen Existenz in einem zivilisierten Land.
Rasch geriet Belgien in seinen Fokus, weil er dorthin familiäre Beziehungen unterhielt. Vor dem Krieg hatte eine Kusine einen Kantor11 in Lüttich, Nathan Goldstein, geehelicht, einen Mann, den sie nie gesehen hatte, sondern nur von Fotografien her kannte. Das war durchaus üblich. Solche Ehen wurden von Heiratsvermittlern, sogenannten Schadchen, arrangiert. Goldstein war früh verwitwet, und da es sich für einen frommen Juden im besten Mannesalter nicht schickte, lange ledig zu sein, beschloss er, sich in seiner polnischen Verwandtschaft nach einer neuen Ehefrau und einer Ersatzmutter für seine vier