Schattenkinder. Marcel Bauer

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Название Schattenkinder
Автор произведения Marcel Bauer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783898019002



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Der Nazi-Spuk werde irgendwann vorüber sein. Danach würden wieder geordnete Zustände im Reich einkehren.

      Seine Überzeugung stützte sich auf die Beobachtung, dass neuerdings alle antisemitischen Parolen aus dem Stadtbild entfernt worden waren. Es fänden auch keine Übergriffe gegen Juden oder jüdisches Eigentum mehr statt. Zu den Olympischen Spielen präsentiere sich Deutschland als gastfreundliches, weltoffenes Land. Alles sei auf einmal viel entspannter. Jüdische Sportler, die aus der deutschen Nationalmannschaft entfernt worden waren, seien mit allen Ehren wieder aufgenommen worden. Deutschland sei eben eine Kulturnation, und daran würden »diese Banausen aus den bayerischen Bergen«, die derzeit in Berlin das Sagen hätten, auf Dauer nichts ändern.

      Dass Meyers zur Schau gestellte Gelassenheit nur gespielt war, sollte der Metzger Rozenberg an den Umständen ersehen, mit der die Geldübergabe stattfand. Statt eine Bank aufzusuchen, begleitete er den Konsul auf den Söller des Hauses, wo dieser unter einer losen Bohle des Fußbodens sein mobiles Kapital verborgen hatte. In einer Schuhschachtel hatte er Bargeld, ausländische Devisen sowie Wechsel und Aktien gehortet. Zur Erklärung sagte er, die Reichsregierung habe Devisenstellen eingerichtet, mit dem Ziel, die Juden auszuplündern. Hier dagegen sei sein Geld sicher und gut angelegt. Dieses Geld würden diese Brüllaffen nicht kriegen, betonte er, als er Rozenberg eine beträchtliche Summe in ausländischer Währung aushändigte.

      Abschließend ließ er Rozenberg einen Schuldschein unterschreiben. Da es immer öfter vorkam, dass aus dem Ausland angewiesene Beträge an jüdische Firmen oder Privatpersonen von der deutschen Bankaufsicht unter fadenscheinigen Vorwänden kassiert wurden, vereinbarten sie, dass Rozenberg die monatlichen Raten für den Kredit nicht nach Deutschland überweisen, sondern auf ein belgisches Sperrkonto einzahlen sollte.

      Nachdem die Mutter die Geldscheine ins Futter ihrer Jacke eingenäht hatte, traten die Rozenbergs voller Optimismus ihre Reise ins »Gelobte Land« an. Von Bremen ging es über Köln nach Aachen. In einem Branchenbuch, das in der Bahnhofshalle auslag, fanden sie die Anschrift eines Gasthofes im Ostviertel von Aachen. Dort wollten sie übernachten, um in Ruhe die Lage an der deutsch-belgischen Grenze zu erkunden.

      Die Wirtin der Pension »Zum Postillion« erwies sich als rabiate Person. Bevor sie die Gäste über die Schwelle ließ, wollte sie die Reisedokumente prüfen. Als sie polnische Pässe sah, setzte sie eine Miene auf, die offenes Missfallen bekundete. Bevor sie den Zimmerschlüssel aushändigte, verlangte sie Vorkasse. Die Einrichtung des Fremdenzimmers war bescheiden. Neben einem Doppelbett gab es zwei Kinderbetten, die für einen Siebenjährigen wie Mendel zu knapp bemessen waren. Immerhin gab es in dem Zimmer fließend Wasser.

      Im Zimmer unterhielten sie sich nur im Flüsterton. Die Mutter schärfte den Jungen ein, den Raum nur auf leisen Sohlen zu verlassen. Wenn sie zur Toilette auf dem Flur müssten, sollten sie sich vorher vergewissern, dass die Luft im Treppenhaus rein sei. Ihr war aufgefallen, dass die Herbergsmutter ständig auf der Lauer lag und keine Gelegenheit ausließ, um ihre Kinder auszufragen und zu behelligen.

      Am nächsten Morgen verließen die Rozenbergs getrennt die Pension. Während die Mutter und Joshua die Kleinbahn nahmen, um den Aachener Dom zu besuchen, machten der Vater und Mendel sich auf die Suche nach den Eifeljuden. Da Mendel aus seiner Schulzeit in Lodz noch einige Brocken Deutsch sprach, hatte sein Vater, der nur Polnisch und Jiddisch sprach, gemeint, dass er ihm bei der Suche behilflich sein könne. Er hatte seiner Frau versprochen, am Abend zurück zu sein.

      Mit dem Zug ging es von Aachen nach Düren. Dort nahmen sie die Eifelbahn. Die erste Station war Euskirchen, eine Stadt, die im »Jiddischen Wort« wegen ihrer prächtigen Synagoge als Zentrum jüdischen Lebens beschrieben worden war. Als sie vom Bahnhof die Straße zum Alten Markt hinuntergingen, fanden sie dort eine seltsame Schautafel, auf der Namen und Fotos von Juden sowie Namen von »Judenknechten« und »Volksverrätern« geheftet waren. Der Pranger jagte ihnen einen solchen Schrecken ein, dass sie beschlossen, schleunigst umzukehren und sich gleich in die nächste Ortschaft zu begeben.

      Den Ort Hellenthal unmittelbar an der belgischen Grenze hatte der Kantor in seinen Briefen mehrmals erwähnt. Als sie mit dem Schienenbus dort eintrafen, waren die Geschäfte bereits geschlossen. Sie sahen, dass auf einigen Rollläden Davidsterne gepinselt waren.

      Als sie ein altes Mütterchen sahen, das über die Straße humpelte, drängte Rozenberg seinen Sohn dazu, sie anzusprechen. Ob sie den Viehhändler Karl Haas kenne, fragte Mendel. »Sitt der ooch Jüdde?«, erwiderte die Frau. Sie hatte es nicht böse gemeint, aber Mendel war erschrocken. »Nee, nee«, stammelte er: »Nix Jüd, Polack.«

      »Ah, e sue is dat«, nickte die Alte. Dann zeigte sie mit dem Finger auf die Kölner Straße. »Do önne want d’r Haas.«

      Tatsächlich gab es am Ende der Straße an einem Haus, das unbewohnt schien, eine Hausklingel mit diesem Namen. Nach mehrmaligem Klingeln öffnete ein Mann mittleren Alters die Tür.

      Als er sah, dass es sich um Fremde handelte, wollte er die Tür gleich wieder schließen. Rozenberg hatte gerade noch Zeit den Friedensgruß »Schalom12, Schabbat Schalom« zu sagen. Es war an einem Freitag, und da es bereits dunkelte, war nach jüdischem Verständnis bereits der Sabbat angebrochen.

      Als der Mann den vertrauten Gruß hörte, schaute er sich kurz um, um sicher zu gehen, dass sie niemand beobachtete. Dann zog er den Mann und das Kind zu sich ins Haus. »Kommen Sie herein«, sagte er auf Jiddisch. Er führte sie in eine Wohnküche und sagte, er müsse sich in Acht nehmen: die Nachbarn würden jeden Besucher bei der Polizei melden. Daran könne man sehen, dass die ständige Hetze gegen die Juden und die Gräuelpropaganda der Nazis ihre Wirkung zeige.

      Haas schenkte Rozenberg einen Wacholderschnaps ein und fragte ihn nach seinem Anliegen. Als der erwähnte, er habe wunderbare Sachen über die Eifeljuden gelesen, wiegelte der Viehhändler ab. In der Eifel gebe es fast keine Juden mehr. Ihre Zeit sei abgelaufen. Von den dreihundert Glaubensjuden, die es noch vor ein paar Jahren alleine in Euskirchen gegeben habe, seien nur noch einunddreißig übrig. Und die seien von der Kreisverwaltung in sogenannte Judenhäuser gesperrt worden.

      Alles habe damit angefangen, dass die Behörden auf den Viehmärkten getrennte Plätze für jüdische und arische Händler eingerichtet hätten. Von amtlicher Seite habe es geheißen, das sei notwendig, weil die Juden notorische Betrüger seien, die man besser kontrollieren müsse. Dann sei es immer öfter zu Handgreiflichkeiten der SA gekommen. Wenn die jüdischen Händler nicht freiwillig ihren angestammten Platz geräumt hätten, habe man nachgeholfen. Seinen Freund Andreas Baer von der Baumstraße, der im Krieg das Eiserne Kreuz bekommen habe, habe man grundlos zusammengeschlagen. Er habe selber mit ansehen müssen, wie die Braunen ihn gezwungen hätten, Schweinefleisch zu essen.

      Rozenberg sagte, der Kantor der Synagoge von Lüttich habe ihm seinen Namen genannt, weil er von anderen Juden wisse, dass er ihnen geholfen habe, über die Grenze zu gelangen. Dem Viehhändler war es sichtlich unangenehm, das zu hören. Nein, das tue er schon lange nicht mehr. Das sei zu gefährlich. Die Grenze sei stark gesichert und nicht mehr so durchlässig wie vor zwei oder drei Jahren. Sein Bruder sei kürzlich als Judenschlepper enttarnt worden und dafür in einem Konzentrationslager gelandet.

      Beim dritten Glas Wacholder schilderte Haas die Lage an der Grenze. Früher sei der Handel mit Flüchtlingen in der Eifel ein florierendes Gewerbe gewesen. Ganze Berufssparten, Fuhrunternehmen und Transporteure hätten sich als »Judenfänger« und »Kommunistenschieber« eine goldene Nase verdient. Ohne viel nachzufragen hätten sie gegen gutes Geld politisch und rassisch Verfolgte über die Schmugglerpfade nach Belgien geleitet. Bauern, die jenseits der Grenze Wiesen oder Äcker besäßen, hätten Flüchtlinge unter Heuhaufen oder Zuckerrüben versteckt und mit Pferdekarren über die Grenze gebracht, wo sie von belgischen Komplizen in Empfang genommen worden waren. Selbst NS-Parteigenossen und Nutznießer des Regimes hätten vom lukrativen Judenhandel profitiert, denn die Schanzarbeiter am »Westwall« und die Bauarbeiter an der braunen Ordensburg »Vogelsang« hätten sich rege daran beteiligt, um ihr mageres Salär aufzubessern.

      Damit sei es nun vorbei. Die Preise, die professionelle Schleuser inzwischen verlangten, hätten astronomische Höhen erreicht: Für eine Passage würden Kopfprämien von 1.000 bis zu 10.000 Reichsmark verlangt. Früher