Schattenkinder. Marcel Bauer

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Название Schattenkinder
Автор произведения Marcel Bauer
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783898019002



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sich erinnern konnte, wurde dieses Ritual nur einmal anlässlich des Geburtstags der Mutter unterbrochen, als der Vater allen eine Schifffahrt spendierte. Von der Anlegestelle des Dampfers am Schloss von Seraing ging es die Maas hinab nach Visé. Dort gab es eine Insel mit einem Ausflugslokal, wo man Kuchen essen, Zwergziegen streicheln und Hühner und Enten füttern konnte. Die Kinder durften Tretboot fahren und auf einem Kettenkarussell durch die Luft schweben.

      Damit die Streitereien nicht die Eintracht der Familien Goldstein und Rozenberg trübten, dafür sorgten die Mütter, die darüber wachten, dass bei den geselligen Abenden, die einmal in der Woche abwechselnd in Lüttich oder Seraing stattfanden, nicht gestritten wurde. Joshua und Mendel liebten diese Treffen, weil sie dann bis spät abends herumtollen konnten.

      Ihr Idol war der 15-jährige Fred. Fred war ein Tausendsassa, ein vorlautes Bürschchen, das den starken Mann markierte. Er prahlte gern mit seinen Streichen und brüstete sich mit amourösen Abenteuern. Wenn er glaubte, die Luft sei rein, zog er ein Päckchen Zigaretten der Marke Boule d’Or aus der Hosentasche, zündete eine an und machte einen Lungenzug. Einmal stachelte er Mendel an, es zu versuchen. Mendel wurde dabei so übel, dass er sich übergeben musste.

      Wenn sie ungestört waren, holte Fred eine Illustrierte hervor, die »Paris-Hollywood« hieß, und in der Fotos von halbnackten Frauen in anzüglichen Posen zu sehen waren. Er war auch der stolze Besitzer einer großen Sammlung von Piccolos, schmalen Comic-Heftchen, die »Sigurd«, »Akim«, »Fulgor«, »Kit Carson« oder »El Bravo« hießen. Es waren Groschenhefte, die bei allen Jungen begehrt waren und auf dem Schulhof unter der Hand getauscht wurden. Es galt dabei vorsichtig zu sein, denn die Lehrer betrachteten die Hefte als Schundliteratur. Wenn sie Schüler damit ertappten, gab es eine schallende Ohrfeige und die Heftchen wurden konfisziert.

      Die wöchentlichen Treffen waren auch deshalb so beliebt, weil Hanna, die Frau des Kantors, eine hervorragende Bäckerin war. Sie verstand sich besser als jede andere darauf, einen traditionellen Käsekuchen aus geronnenem Lab herzustellen. Dazu gab es Kaffee oder Tee und für die Männer ein Glas Rotwein.

      Wenn alle satt waren, sagte Hanna Goldstein: »Lasst uns mameloschen30!« Das war das Zeichen, einfühlsame Lieder aus der polnischen Heimat anzustimmen. Sie begannen meist mit religiösen Weisen, die von Welt- und Gottesschmerz getragen waren. Danach folgten Liebes-, Wiegen- und Kinderlieder. Zu vorgerückter Stunde wurden lustigere Lieder angestimmt, die aus dem Repertoire der Klezmorim31 stammten, jüdischen Musikanten, die von Schtetl zu Schtetl zogen und auf Hochzeiten, Festen und an Feiertagen aufspielten.

      Diese Bänkelsänger genossen bei frommen Juden nicht den besten Ruf, weil sie gerne chassidische Gesänge parodierten und sich nicht scheuten, Zigeuner in ihre Reihen aufzunehmen.

      Eines Tages brachte Fred ein Grammofon mit, das er ohne Wissen der Eltern gegen seine Briefmarkensammlung eingetauscht hatte. Nun konnten sie auf einmal die volkstümlichen Weisen mit musikalischer Begleitung hören. Fred hatte auch Schallplatten mit Melodien aus jiddischen Musicals besorgt. Die kamen aus Amerika und lösten bei den jungen Leuten Begeisterung aus. Als Fred einmal Anstalten machte, zu den Klängen eines Swings mit seiner Schwester Bad-Sebah zu tanzen, griff der Kantor ein. Er verbat sich diesen Unsinn. Seitdem war das gottlose Ding aus den Familientreffen verbannt.

      Wenn Ariel Rozenberg ein paar Gläschen Wein getrunken hatte, konnte er sich von einer anderen, lustigen Seite zeigen. Für großes Gelächter sorgten seine nachgestellten Kundengespräche, die er in einem entsetzlichen Kauderwelsch aus Polnisch, Jiddisch und Wallonisch vortrug.

      Er kannte eine Vielzahl von jiddischen Witzen. Mit großem Vergnügen nahm er die Chassidim32 aufs Korn, was seinem frommen Vetter böse aufstieß. Einer handelte von einem gewissen Moische, der jeden Tag zu Gott betet, damit er ihn reich macht. »Herr, lass mich im Lotto gewinnen«, betet er inständig. So geht das über viele Wochen, bis ihm Gott antwortet: »Moische, gib mir a Chance. Kauf dir a Los.«

      Ein anderer Witz handelte von galizischen Juden, die den Vatikan besuchen und den Papst sprechen wollen. Der Schweizer Gardist, der gerade Wache schiebt, sagt, sie sollten ihr Anliegen schriftlich einreichen. Sie antworten, das sei nicht möglich, weil es sich um eine private und dringende Angelegenheit handele. Nach langer Diskussion werden sie zum Papst vorgelassen. Der fragt sie, was ihr Anliegen sei. »Entschuldigen der Herr Papst«, sagt der Wortführer, »kennen Sie nicht den Jesus Christus und seine Jünger, bittschön?« – »Aber ja doch«, erwidert der Papst, »die kenn ich!« – »Da wäre nämlich noch eine unbezahlte Rechnung für ein Abendessen.«

      Neben den Chassidim und den Christen waren die Yekkers33, die Deutschen, eine bevorzugte Zielscheibe seines Spotts. Ariels Witze begannen meistens mit der Redewendung: »Ein armer Schwob sucht einen weisen Rabbi auf …« Einer handelte davon, wie ein Jude einen deutschen Metzger aufsucht, auf einen Schinken zeigt und sagt, er hätte gern diesen fetten Fisch dort. »Aber das ist doch ein Schinken«, antwortet der Schwob und will ihn belehren, dass es Schweinefleisch sei. »Nun geben Sie mir schon den Fisch«, unterbricht ihn der Jude, »mich interessiert nicht, wie er heißt!«

      * * *

      Bei den Wahlen von 1936 hatte die Sozialistische Arbeiterpartei in Wallonien, dem industriellen Herz des Landes, über 40 Prozent der Stimmen geholt. In Seraing, einer Hochburg der Linken, regierten sie schon lange, aber die Kommunisten waren ihnen auf den Fersen und stellten mit sechs Abgeordneten ein Viertel aller Sitze. Von den Linksparteien erhofften sich die Migranten bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Juden eine baldige Einbürgerung und eine Überwindung von Diskriminierungen.

      Es waren unruhige Zeiten. Wie in anderen Städten gab es auch in Seraing Aufmärsche und Kundgebungen. Unter den Freiwilligen, die über die Avenue de la Concorde paradierten, um mit den Internationalen Brigaden in den spanischen Bürgerkrieg zu ziehen, waren auch Juden. Sie trugen rote Halstücher, ballten ihre Fäuste und sangen die Internationale.

      Schon von Natur aus vorsichtig, war Rozenberg als Geschäftsmann darauf bedacht, sich aus der Tagespolitik herauszuhalten, umso mehr als er nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung besaß. Dass er in Belgien weder an Parlaments- noch an Gemeinderatswahlen teilnehmen durfte, störte ihn nicht, weil er am politischen Gezänk sowieso nicht interessiert war. Das schade dem Geschäft, pflegte er zu sagen. Auf Fragen der Kundschaft nach seiner politischen Meinung gab er an, in diesen Dingen als Pole nicht bewandert zu sein.

      Rozenberg verordnete auch den Söhnen politische Abstinenz. Er duldete nicht, dass sie sich einer Jugendorganisation anschlossen, weil die alle weltanschaulich gebunden waren. Auch die zionistischen Jugendgruppen, die am Sabbat in der Synagoge eifrig Werbung machten, waren ihm nicht geheuer. In seiner Furcht vor Vereinnahmung verbot er seinen Söhnen sogar, am Sonntag das Haus des Volkes in Seraing zu besuchen, obwohl dort kostenlose Filmvorführungen stattfanden. Er vermutete dahinter ein Ränkespiel der marxistischen Parteien, um neue Anhänger zu ködern und die Seelen unschuldiger Kinder mit linken Parolen zu vergiften.

      Bei den geselligen Treffen im Familienkreis galt die Regel, nicht über Politik zu reden. Dieses Tabu wurde immer öfter durchbrochen, weil die große Politik gewaltsam ins Leben der Menschen eingriff.

      Auf einmal standen die finsteren Pläne der Nationalsozialisten im Mittelpunkt des Interesses. Die deutsche Propaganda sprach von einer jüdischen Weltverschwörung, obwohl es in Deutschland nur eine halbe Million Juden gab. In vertrauter Runde wurden die Nationalsozialisten nie bei ihrem Namen genannt, denn »Nazi« bedeutet im Hebräischen »Prinz« und war ein Ehrentitel des obersten Richters im Sanhedrin34. Statt von Nazis sprach man deshalb von Swastikas35, von Hakenkreuzlern. Auch der Name Adolf Hitler wurde nie ausgesprochen. Man sprach lediglich von »diesem Schmock da«, einem Wort, mit dem man einen Tölpel oder einen Menschen mit unangenehmen Eigenschaften umschreibt.

      Während die Frauen sich häuslichen Themen widmeten, begannen die Männer nun immer öfter und offener über die hohe Politik zu fachsimpeln. Mendel und Joshua saßen still dabei, um andächtig zuzuhören, was da besprochen wurde. Eines Tages schaltete sich unerwartet Nathans Frau in die Diskussion ein. Sie sagte unumwunden: »Macht euch doch nichts vor, die Deutschen haben nur das eine Ziel, die Juden zu vernichten.«

      Zunächst herrschte Überraschung, dass eine Frau es wagte, sich in einer Runde