Virus. Kristian Isringhaus

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Название Virus
Автор произведения Kristian Isringhaus
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738086386



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zuckte mit den Schultern. „Oh, Ärger. Sie sind ein Meister der Kombinatorik. Was hat mich als Reporter enttarnt? Der Bleistift hinter meinem Ohr oder das Blöckchen in der Brusttasche?”

      Damit drehte er sich um und ging. Er war schon fast wieder über den Parkplatz, als er hinter sich seinen Namen hörte. Er blickte über die Schulter. Lars sah gehetzt und gestresst aus. Schweiß stand auf seiner Stirn und seine leicht füllige Gestalt strahlte nicht die Ruhe aus, die Holger von ihm gewohnt war. Auch seine Stimme hatte ihre langsame nordische Gelassenheit verloren.

      „Wo willst du hin, Mann? Wir brauchen dich hier drin”, rief er. Holger ging zum Eingang zurück.

      „Deine investigativ exzellent geschulte Streifenkraft hier hat mich leider als Mitglied der schreibenden Zunft enttarnt. Da war nichts zu machen. Er hat einfach durch meine Camouflage hindurch geblickt”, antwortete Holger extra laut. „Er ist mir über.”

      Lars zog eine Grimasse. Er mochte Holgers Sarkasmus, aber zu lachen wäre weder der Situation noch seinem Kollegen gegenüber angemessen gewesen.

      „Gute Arbeit, ganz fantastisch”, raunte Holger dem Beamten zu, als er mit Lars zusammen das Gebäude betrat.

      Das Chaos erschlug ihn fast. Noch nie hatte er ein solches Durcheinander gesehen – nicht einmal in seiner Wohnung. Doch es gab kein Zurück mehr. Da musste er jetzt durch. Er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen.

      „Also, was genau ist passiert?” fragte er Lars.

      „Hier sollte ein Vortrag stattfinden.” Lars sprach hektischer als sonst, ohne seine norddeutsche Ruhe. Der Akzent allerdings war trotzdem unüberhörbar. „Aber noch bevor der Redner angefangen hat, schlägt ein Blitz in das Gebäude ein und tötet ihn.”

      „Mir kannst du die Wahrheit sagen”, raunte Holger ihm verschwörerisch zu. „Ich bin auf eurer Seite.”

      Lars lachte kurz und freudlos auf. „Das ist die Wahrheit. Ich weiß auch, dass es unglaublich klingt. Aber es ist, wie es ist. Der Blitz ist durchs Dach geschlagen. Auf der Bühne hat es gebrannt. Alle aus dem Publikum faseln irgendwas von ‘nem komischen Ton.”

      „Was für’n Ton?”

      „Keine Ahnung. Sie sagen, sie hätten sowas noch nie gehört. Keiner weiß, wo es herkam, aber jeder hat es gehört. Sogar der Tonmeister. Der versichert allerdings, der Ton sei nicht aus seinen Lautsprechern gekommen. Er sagt, er hat sie sogar ausgeschaltet, aber der Ton ist geblieben.”

      „Ein psychologisches Massenphänomen”, vermutete Holger. Jetzt war es also tatsächlich soweit. Seine erste Analyse. Er hatte zu arbeiten begonnen. „Selten, aber kommt vor. Der Schock trübt die Wahrnehmung, Halluzinationen sind nicht auszuschließen. Gleiche Umgebung und Umstände sorgen dafür, dass die Halluzination bei jedem ähnlich ist.”

      „Ich hab keine Ahnung von dem Scheiß.” Lars war Kriminalist. Was ihn interessierte, waren Beweise und Fakten.

      „Wo fange ich an?” fragte Holger.

      „Die Assistentin des Professors hat es wahrscheinlich am schlimmsten erwischt. Erstens stand sie direkt neben der Bühne und zweitens kannte sie das Opfer sehr gut. Sie war sogar kurz ohne Bewusstsein. Sie steht unter Schock, will sich aber partout nicht helfen lassen. Faselt wirres Zeug.”

      „Name?”

      „Deborah Ashcroft.”

      Holger seufzte tief. „Ihr seid zu gut zu mir. Nach der großzügigen Einladung gebt ihr mir jetzt auch noch die Gelegenheit, mein Schulenglisch aufzupolieren. Du siehst mich hocherfreut, mein Freund.”

      Lars grinste und wies Holger mit ausgestrecktem Arm den Weg. Holger stellte sich auf Zehenspitzen, um über die durcheinander wuselnden Menschen zu blicken. Auf einer Trage nahe dem linken Bühnenrand lag eine hübsche junge Frau.

      Doch Miss Ashcroft schien nicht an Ruhe und Bequemlichkeit interessiert. Ein Sanitäter neben ihr hatte alle Hände voll damit zu tun, sie in ihrer Position zu halten. Im Moment versuchte er vergeblich, ihr eine Beruhigungsspritze zu geben. Holger trat hinzu.

      „Miss Ashcroft? Hi, my name is Holger Petersen. I’m the...”

      „Sie können Deutsch mit mir reden”, unterbrach sie ihn barsch. „Und es ist Dr. Ashcroft, bitte.”

      Holger warf einen übellaunigen Blick zu Lars rüber. Der grinste kurz und wandte sich dann wieder seinen Aufgaben zu.

      „Okay. Gut, eh, Dr. Ashcroft.” Holger musste sich sammeln. „Ich bin der Pastor dieser Gemeinde und man hat mich gebeten, ihnen psychologisch zur Seite zu stehen.”

      „Ich brauche keine Hilfe”, erwiderte Ashcroft. „Es geht mir gut.”

      „Sehen Sie, es ist eine völlig normale Reaktion nach einem Schock, zu glauben, es gehe Ihnen gut”, sagte Holger mit ruhiger Stimme.

      „Was für ein Schock? Ich habe keinen Schock. Mein Boss ist gerade gegrillt worden und ich möchte wissen, warum. Das ist alles.” Eine gewisse Aggressivität lag in ihrer Stimme. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch der Sanitäter drückte ihre Schultern sanft nach unten.

      „Natürlich wollen Sie das. Aber mit einer akuten Belastungsreaktion ist nicht zu spaßen. Wenn sie nicht verarbeitet wird, kann sie Ihnen für eine lange Zeit ernste Probleme bereiten und Ihre Arbeit wie auch Ihr Privatleben beeinflussen.” Er musste bei seinen eigenen Worten schlucken und hoffte, dass sie es nicht bemerkte.

      „Sind Sie ein beschissener Psychiater?” ranzte sie.

      Amerikaner! dachte Holger. Ohne Fluchen geht’s bei denen nicht.

      „Nein, ich bin Pfarrer. Aber für solche Situationen bin ich…”

      „Und welche Arroganz erlaubt es Ihnen, mir einen Schock zu unterstellen?” fiel sie ihm ins Wort. „Unterstelle ich Ihnen etwa einfach, dass Sie nach Alkohol stinken? Nein, ich behalte es für mich!”

      Holger atmete tief durch. Er hasste es, unterbrochen zu werden. Die Beleidigung, obwohl wahrscheinlich zutreffend, half wenig, sein Gemüt zu beruhigen. Er gab sich Mühe, seinen Ärger nicht zu zeigen. „Wenn Sie mich überzeugen wollen, hilft es Ihnen wenig, Schocksymptome offen zur Schau zur tragen. Und Unsachlichkeit kann leicht als Desorientierung…”

      „Und wenn Sie mich überzeugen wollen, dass Sie mir helfen können”, fiel sie ihm ins Wort, „hilft es Ihnen wenig, Ihren Mangel an Sachverstand so offen zur Schau zu stellen. Ist Ihnen aufgefallen, dass ich keinerlei physische Symptome zeige? Und auch keine Wahrnehmungsprobleme oder gar dissoziative Störungen? Ich bin Biologin! Und ich kann meine Gesundheit durchaus selber einschätzen!”

      Holger blickte sich auf der Suche nach einer Beruhigung seines Gemüts und einem neuen Ansatz im Saal um, doch was er fand, schien wenig dienlich. Die Feuerwehrleute auf der Bühne waren jetzt damit beschäftigt, ihre Werkzeuge aufzuräumen, den Löschschaum zu entfernen und Proben der Brandrückstände zu entnehmen. Insgesamt schien sich der Saal langsam etwas zu leeren, weil mehr und mehr der Schockpatienten in Krankenhäuser abtransportiert wurden. Doch noch immer war das Chaos unbeschreiblich und zur Kühlung von Temperamenten wenig hilfreich.

      Er seufzte tief und wandte sich wieder an Ashcroft. „Ganz unabhängig davon, ob Sie Schocksymptome haben oder nicht, möchte ich Ihnen raten, professionelle psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Sie dürfen die Ereignisse nicht verdrängen, sie müssen sie verarbeiten. Nach so einem schrecklichen Unfall…”

      „Unfall?” Schon wieder schnitt Ashcroft ihm das Wort ab. Langsam wurde es nervig. „Was faseln Sie denn da von einem Unfall? Das war Mord!”

      Holger hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren. Er war nicht mehr der besonnene Geistliche von früher. Immer häufiger kam es vor, dass er die Nerven verlor. Zwar zeigten sich seine Emotionen nicht durch lautstarke Ausbrüche, doch so Manchem wäre das wahrscheinlich lieber gewesen. Die leiernde Gleichgültigkeit seines Tonfalls erhielt er auch bei wütender Erregung aufrecht, doch inhaltlich wurden seine