Название | Virus |
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Автор произведения | Kristian Isringhaus |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738086386 |
„Dann werden Sie also den natürlichen Tod ankreuzen?”
Dr. Schubert blickte überrascht von dem Klemmbrett in seiner Hand auf und sah Wegmann an. Er war noch recht jung, keine vierzig. „Das nennen Sie natürlich?”
„Sie sind noch nicht so lange dabei?” Wegmann verlieh seiner Stimme eine Überlegenheit, die signalisieren sollte, dass er sich auskannte.
„Ich glaube, ich verstehe nicht…”
„Sehen Sie, die Sache ist die”, begann er umständlich. „Wir haben hier den Arsch voll Arbeit, wenn ich das mal so sagen darf. Mehr können wir nicht gebrauchen. Und eines weiß ich ganz sicher: Mord war das nicht.”
„Das habe ich auch nie behauptet”, Dr. Schubert hatte offenbar keine Ahnung, worauf Wegmann hinaus wollte. Oder er wollte keine Ahnung haben.
Ein Feuerwehrmann zwängte sich zwischen den beiden durch und stieg auf die Bühne. Wegmann setzte erneut an: „Nun ist es aber so, dass wir verpflichtet sind, in diese Richtung zu ermitteln, wenn Sie den nicht-natürlichen Tod ankreuzen. Wir müssten eine Autopsie durchführen lassen, die zu keinem anderen Ergebnis führen würde, als dass dieser Mann durch einen Blitzschlag getötet wurde. Sie würde uns aber einen Riesenhaufen Papierkram kosten. In der Regel helfen uns Notärzte in diesen Situationen gerne aus. Eine Hand wäscht die andere.”
„Ich mache meine Arbeit und Sie machen Ihre.” Dr. Schubert fühlte sich sichtlich in seiner Ehre verletzt.
„Sie wissen, dass dies kein natürlicher Tod war, und ich weiß es auch”, sagte Wegmann beruhigend. Diese Nuss war härter, als er gedacht hatte. „Aber wir sehen auch beide, dass es kein Mord war. Nun können Sie Ihrer Polizei viel Arbeit ersparen, indem Sie den natürlichen Tod ankreuzen. Einen Unterschied macht das für Sie nicht.”
„Doch, den macht es. Ich setze meine Unterschrift darunter. Und meine Unterschrift kommt nur darunter, wenn der nicht-natürliche Tod angekreuzt ist.”
Verdammter Idealist! dachte Wegmann. Diese jungen Typen hatten einfach noch nicht begriffen, wie die Welt sich drehte. Er verlor die Geduld. Als ob er nichts Besseres zu tun hätte, als mit einem naiven Weltverbesserer zu diskutieren.
Er hatte es auf die freundliche Art versucht. Zeit für schwerere Geschütze.
„Was fahren Sie denn für ein Auto, Dr. Schubert?”
„Mercedes”, antwortete dieser unsicher. „Wieso?” Ihm war anzusehen, dass ihm diese Wendung des Gesprächs nicht gefiel. Instinktiv, als könne er auf diese Weise seine Einschätzung schützen, umklammerte er das Klemmbrett fester.
„Wir sind zu Ihrem Schutz da, Dr. Schubert”, sagte Wegmann. „Es kann so schnell passieren, dass Randalierer ein Auto beschädigen. Sie wollen es sich doch mit der Polizei nicht verscherzen?”
„Ich bin gut versichert.” Dr. Schuberts Stimme war wieder sicher und er war hörbar verärgert.
„Haben Sie Kinder?” fragte Wegmann.
6.
Holger hasste es, wenn man ihn ‚Pastor’ nannte. Er war kein guter Hirte für seine Herde mehr. Er hatte seinen kompletten Glauben verloren. Viel mehr noch war er sogar fest davon überzeugt, dass es keinen Gott gab. Seine Predigten waren uninspiriert und die Zahl der Kirchgänger in der Gemeinde nahm beständig ab.
Seine Verachtung für diese Welt, seine völlige Gleichgültigkeit ihr gegenüber und sein beißender Zynismus klangen stets in seinen Predigten durch. Richtig eskaliert war die Situation einmal, als Holger Nietzsches ‚Antichrist’ zitiert hatte. Bis heute stand seine feste Überzeugung, sein Argument, dass auch Christen und Kirchgänger nicht blind einem Buch folgen durften, sondern eigene Entscheidungen treffen mussten, sei richtig. Vielleicht war Nietzsche nicht die treffendste Referenz gewesen, zugegeben. Er hatte für Empörung gesorgt und sich vor der Kirchenkonferenz verantworten müssen.
Holger war es egal. Er machte den Job weiter, weil Pfarrer nun mal einfach kein Job war, den man einfach so aufgab. Und von irgendwas musste er ja schließlich leben. Zudem, so war er sich sicher, würde er binnen kürzester Zeit zu einem hemmungslosen Alkoholiker werden, wenn er auch seine letzte Aufgabe im Leben verlor. Auch ohne Glauben an Gott gab ihm das Amt des Pfarrers das letzte bisschen Halt, das er noch im Leben hatte.
Doch Aufgaben wie die heutige gehörten nicht zu seinen bevorzugten. Holger hatte schon jetzt keine Lust mehr. Wieso hatte dieser Blödmann ihn als ‚Herr Pastor’ anreden müssen? Es erinnerte ihn nur wieder daran, wie schlecht er in seinem Beruf war. Und dem sollte er jetzt nachgehen.
Bereits am Eingang zum Kongresszentrum stieß er auf das nächste Problem. Die ohnehin ausufernden Sicherheitsmaßnahmen während des Gipfels waren nach dem schrecklichen Ereignis am Nachmittag ins Unermessliche gestiegen.
„Sie können hier nicht rein.” Ein am Eingang postierter Polizist stellte sich Holger in den Weg, ohne ihn auch nur nach seinem Namen oder seiner Absicht zu fragen. Der Polizist war weitaus kleiner als die eins fünfundachtzig, die Holger maß, und leicht untersetzt.
„Ihr Freunde und Helfer seid doch zu amüsant”, erwiderte Holger. Wie immer verlieh er seinen Worten eine leiernde Gleichgültigkeit, die nicht selten als Arroganz fehlinterpretiert wurde. „Herbestellen und dann nicht rein lassen? Mordsidee! Köstlich! Mein Zwerchfell brennt. Was für einen Spaß lasst ihr euch wohl als Nächstes einfallen?”
„Wer hat Sie herbestellt?” der Polizist ignorierte Holgers herablassende Haltung dienstbeflissen.
„Die Freunde vom Polizeigesangsverein Grün-Weiß Rostock”, antwortete Holger immer noch leiernd, doch inzwischen auch leicht gereizt.
„Klar. Und warum sollte ein Mensch, der klar bei Verstand ist, gerade Sie hierher bestellen?”
„Ich habe nie behauptet, es gebe in eurem Verein Mitglieder, die klar bei Verstand sind.”
„Vorsicht, Mann. Sonst hast du Handschellen an, so schnell kannst du nicht gucken.” Der Polizist wurde jetzt richtig sauer.
Was für ein Riesenarschloch! dachte Holger. Es war nervig, wenn einfache Polizisten mit Aufgaben betraut wurden, die sie überforderten. Hier musste selbständig geurteilt werden. Dem war der kleine Polizist nicht gewachsen. Alles, was ihm durch seinen kleinen, vermutlich relativ leeren Kopf ging, war, keinen Fehler zu begehen. Er arbeitete hier mit Geheimdienstlern und BKA-Leuten zusammen. Die würden ihn zusammenfalten, dass ihm Hören und Sehen verging, wenn er einem Unbefugten Zutritt gewährte. Nicht auszudenken, er würde auf den billigen Trick eines Boulevard-Journalisten hereinfallen.
Holger blickte sich genervt um. Das Chaos, das Gebrüll, die umherlaufenden Menschen, die Blaulichter, die Kamerateams, die Globalisierungsgegner – all das ließ darauf schließen, dass es drinnen nicht viel ruhiger sein würde. Ständig drückten sich Menschen mit wichtigen und gehetzten Mienen an ihm und dem untersetzten Polizisten vorbei. Er wollte nicht da rein. Doch er musste. Außerdem regnete es immer noch.
Er gab sein kleines Spielchen auf und startete einen ernsthaften Versuch.
„Ich bin der örtliche Pfarrer und soll hier psychologische Betreuung leisten”, sagte er, während er dem Polizisten seinen Ausweis unter die Nase hielt.
Der Polizist musterte ihn von oben bis unten. Ungekämmte Haare, die der Regen ihm an die Stirn geklebt hatte, darunter ein unrasiertes Gesicht, eine schlaksig drahtige Figur, ein verwaschenes hellblaues Sweatshirt mit Kapuze, Jeans und Sneakers.
Der Polizist lachte kurz auf. „Wo ist die Robe, eure Heiligkeit?” Dann wurde er ernst. „Presse hat hier nichts zu suchen, also verzieh dich! Sonst kannst du gleich mal unsere GeSa kennenlernen.”
Die GeSas waren die speziell für den Gipfel eingerichteten Gefangenen Sammelstellen. Natürlich waren sie nicht für Pfarrer, sondern für gewalttätige Demonstranten gedacht, doch Holger hatte keine Lust mehr zu diskutieren.