Virus. Kristian Isringhaus

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Название Virus
Автор произведения Kristian Isringhaus
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738086386



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konnte man das wohl nennen und es klappte normalerweise nicht. Dann atmete er tief durch und wandte sich bemüht beherrscht wieder an die Amerikanerin. „Es war ein Blitz, Dr. Ashcroft. Ihr Chef wurde von einem Blitz erschlagen. Wenn es nicht jemand geschafft hat, sich die Mächte der Natur Untertan zu machen, ist Mord auszuschließen.”

      „Und dieser Ton? Und die Schrift? Alles Zufall? Jemand hat hier manipuliert. Wie blind kann man denn sein?”

      Was für eine Schrift? dachte Holger. Lars hatte ihm mal wieder nicht alles erzählt. Aber es war ihm fast egal. Wie eigentlich alles. Er überlegte kurz, wie er etwas über die Schrift erfahren konnte, ohne preiszugeben, dass er keine Ahnung hatte.

      „Was genau, glauben Sie denn, hatte die Schrift zu bedeuten?”

      „Woher soll ich das wissen? Ich weiß nur, dass sie da war. Geschrieben mit Feuer.”

      „Geschrieben mit Feuer?” Holger war so überrascht, dass es einfach aus ihm raus platzte. Sogar sein gleichgültiges Leiern vergaß er.

      „Yikes! Scheiße, wenn einem keiner was sagt, oder? Dann wissen Sie ja jetzt, wie ich mich fühle.”

      „Also, was war das für eine Schrift?” Holger gab den Versuch auf, vorzugeben, er wisse Bescheid.

      „Eine Flammenspur hat sich bis an die Rückwand durchgefressen und plötzlich stand da klar lesbar ‚A87’. Ich weiß nicht, was es bedeutet. Aber ich weiß, dass es da war.”

      „Flammenausbreitung ist völlig arbiträr. Es wird sich zufällig ein Bild ergeben haben, das für Sie in ihrem Schockzustand…”

      Erneut durfte er nicht ausreden. „Oh, ein Pyroexperte sind wir auch. Pfarrer, Psychiater und Pyroexperte. Wow, Sie kommen rum.”

      Es brodelte in Holger. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er überkochte. „Liebe gute Frau! Ich versuche, Ihnen zu helfen. Sie würden mir die Sache signifikant erleichtern, wenn Sie mich gelegentlich einen Satz zu Ende…”

      Auch diesen nicht.

      „Wenn Sie mir helfen wollen, überzeugen Sie die Polizei davon, dass es Mord war”, fuhr Ashcroft ihm ins Wort. „Sagen Sie diesem jerk hier, er soll mich in Ruhe lassen.” Sie sandte einen giftgetränkten Blick zu dem Sanitäter, der immer noch versuchte, sie auf der Trage festzuhalten „Finden Sie heraus, wie lange ein Blitz dauert oder gehen Sie einfach Verstecken spielen. Aber vor allem: fuckin’ leave me alone.

      Holger blickte sich um. Sublimieren. Den Ärger ausatmen, nicht aussprechen. Er wollte sich noch eine letzte Chance geben, sich zu beruhigen. Doch das hektische Gerenne um ihn herum, die vielen Menschen, die Lautstärke und die stickige, verbrannt riechende Luft ließen das nicht zu.

      „Lassen Sie sie gehen”, sagte er dem Sanitäter. Dann wandte er sich zurück an Ashcroft. Seine Sprachmelodie war nach wie vor ruhig und leiernd, doch ein leichtes Zittern in seiner Stimme ließ seine Verärgerung erkennen. „Dr. Ashcroft, es war mir eine Qual. Ich werde Sie in meine Gebete einschließen und flehen, dass es sich um eine schwere Belastungsreaktion handelt. Mögen schlaffressende Alben und Mahren für den Rest Ihres Lebens Ihre Träume heimsuchen und Gleichgültigkeit zu Ihrer letzten Zuflucht machen. Meine besten Verwünschungen.”

      Damit drehte er sich um und ging. Hinter sich hörte er Ashcroft die englische Bezeichnung für eine Öffnung in der rückseitigen Körpermitte murmeln.

      Hysterische Besserwisserin! dachte er und suchte nach Lars.

      Langsam wurde es etwas übersichtlicher in dem Saal. Polizeibeamte hatten damit begonnen, die Saalbestuhlung im rückwärtigen Teil des Raums zu stapeln. Zudem hatten mehr und mehr Menschen ihre Schockerstversorgung erhalten und wurden entweder in Krankenhäuser abtransportiert oder durften gehen. Die Zahl der im Weg stehenden Krankentransportliegen hatte stark abgenommen. Die Beamten des BKA schritten mit der Zeugenbefragung voran und ließen die Menschen ebenfalls gehen.

      Nach wie vor allerdings gab es eine immense Menschenansammlung am Ausgang, denn jeder, der den Saal verlassen wollte, wurde von Polizeibeamten genauestens kontrolliert. Die Angst, jemand könnte Bildmaterial von dem schrecklichen Ereignis in Umlauf bringen, war enorm.

      Holger fand Lars.

      „Wie ist es gelaufen?” fragte dieser.

      „Die Schrift, so nehme ich an, hattest du geplant, eines Tages nebenbei bei einem Bier zu erwähnen?” fragte Holger missmutig zurück. Seine Laune war jetzt noch schlechter als vor einer Stunde, als das Telefon geklingelt hatte.

      „Was für eine Schrift?”

      „Dieser Gegenentwurf zur sympathischen Gesellschafterin erwähnte eine Feuerschrift.”

      Sie standen mehr oder weniger in der Mitte des Saals und wurden in regelmäßigen Intervallen entweder angerempelt, oder mussten Platz machen.

      „Ach das. Ja”, sagte Lars. „Nach dem Blitzeinschlag hat es gebrannt. Einige Zeugen behaupten, das Feuer hätte die Form eines Schriftzugs gehabt.”

      „A87?”

      „A87. Ist natürlich völliger Quatsch. Feuer breitet sich zufällig aus. Es muss ein entsetzliches Bild gewesen sein. Stell es dir vor: Als die Wand hinten Feuer fängt, da hängt der Professor noch immer in dem Blitz und zittert wie bescheuert.”

      Holger horchte auf. „Der Blitz dauerte noch an, als das Feuer sich bis hinten durchgefressen hatte?”

      „So sagen es die Zeugen. Muss schrecklich gewesen sein. Ich glaube, da hätte ich auch Musik gehört und Schriften gesehen.”

      Doch Holger achtete nicht mehr darauf, was Lars sagte. Ashcrofts Worte klangen in seinen Ohren nach. Finden Sie heraus, wie lange ein Blitz dauert oder gehen Sie einfach Verstecken spielen. Aufgrund des zweiten Satzteils hatte er angenommen, auch der erste sei schlicht eine metaphorische Aufforderung, sie in Ruhe zu lassen. Aber hatte sie es vielleicht ernst gemeint? Hatte die Länge des Blitzes für sie etwas Auffälliges gehabt? Er schüttelte den Gedanken ab. Es interessierte ihn schlichtweg nicht.

      „Braucht ihr mich noch?” fragte er Lars.

      „Natürlich brauchen wir dich noch. Du fährst mit ins Krankenhaus und kümmerst dich dort um...”

      Holger meinte, sich das Recht, andere unterbrechen zu dürfen, ersühnt zu haben. „Wie dem auch sei. Wenn ihr geplant habt, mein gewinnendes Naturell noch weiter zu verwenden, hättet ihr mir nicht diese Erinnye vorsetzen sollen. Ich bin jetzt indisponiert.”

      Damit wandte er sich um.

      „Hey, warte”, hörte er Lars rufen.

      „In Rostock gibt es genug andere Pfarrer”, rief Holger über seine Schulter. „Und Psychologen. Ich bin krank.”

      Eine spontane Lust auf Bier überkam ihn. Ging das überhaupt? Er fragte sich, ob es überhaupt noch vorkam, dass er Lust auf etwas hatte. Oder hatte er sich nicht vielmehr unterbewusst die Frage gestellt, was dagegen sprach, nun Bier zu trinken? Unabhängig davon, ob es wirkliche Lust auf Gerstensaft war oder der schlichte Mangel an Gründen, die dagegen sprachen – Holger registrierte, dass es in letzter Zeit häufiger vorkam. Und es war ihm egal.

      Hatte er noch Bier im Kühlschrank? Wahrscheinlich nicht. Er beschloss, zu Hagen zu gehen.

       7.

      Die Demonstration der Globalisierungsgegner verlief ebenso unspektakulär wie unbeachtet. Die Demonstranten trugen Banner und Schilder und skandierten ihre Forderungen, doch keine einzige Kamera zeigte Erbarmen und wandte sich ihnen zu. Das war auch wenig verwunderlich, denn auf der anderen Seite des Zauns herrschte das pure Chaos.

      Passe hatte in der letzten Stunde überhaupt nicht mehr an der Demonstration seiner Mitstreiter teilgenommen. Er hatte nur ungläubig auf den Parkplatz auf der anderen Seite des Zauns gestarrt und sich gefragt, was dort vorging. Unzählige Polizeiwagen, Mannschaftsbusse, Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeuge waren nach und nach hier aufgefahren. Der vormals