Название | Virus |
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Автор произведения | Kristian Isringhaus |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738086386 |
Doch der Zaun war nicht das Einzige, was hier vernünftige Proteste erschwerte. Auch der Austragungsort des Gipfels an sich eignete sich denkbar schlecht für aufmerksamkeitsstarke Aktionen. Während der Schwarze Block in Genua noch mehr oder weniger eine ganze Stadt verwüstet und somit seiner Meinung imposant Nachdruck verliehen hatte, gab es hier nichts, was man auch nur hätte anzünden können.
Unmittelbar um den Zaun zog sich ein breiter Gürtel wilder Wiesen. Hier campten die Globalisierungsgegner. Dahinter gab es mehrere kleine Wäldchen, zumeist aus Eichen und Buchen. Bäume, die zu dicht am Zaun gestanden hatten, waren abgeholzt worden, um ein Überwinden des Zauns von einem Baum aus unmöglich zu machen. Wälder und Wiesen. Was für Randale konnte man hier schon veranstalten?
Nur wenige hundert Meter vom Zaun entfernt befand sich dann der eigentliche Dorfkern. Petersdamm war ein beschauliches kleines Ostseedörfchen mit viel alter Bausubstanz und viel Fachwerk. Hier Verwüstungen anzurichten hätte absolut die Falschen getroffen. Wahrscheinlich hätte sich die Bundesregierung nicht einmal um die Beseitigung der Schäden gekümmert. Wen interessierte dieses Kaff nach dem Gipfel schon noch? Außerdem würde es schlicht und einfach nichts bringen, hier etwas zu zerstören. Petersdamm war nicht Genua.
Auf einer Wiese in der Nähe des Zauns hatten unzählige Übertragungswagen von Kamerateams vorläufig Posten bezogen. Im eingezäunten Bereich selbst waren keine Fernsehteams zugelassen. Kameraleute der Bundesregierung filmten hier und gaben das Material nach eingehender Prüfung durch den BND an die Fernsehsender dieser Welt weiter. Die Fernsehteams, die am Zaun entlang Quartier bezogen hatten, hofften, durch die Gitter hindurch etwas Sehenswertes zu erwischen. Zudem erwarteten ihre Zuschauer Vor-Ort-Berichterstattung. Ob die Bilder nun selbst produziert waren oder nicht.
Natürlich hätte man die Übertragungswagen anzünden können. Immerhin nahm das Areal, das für sie vorgesehen war, etlichen Autonomen den Platz zum Campen. Doch auf die Medien war man eben angewiesen, wenn man eine Botschaft in die Welt zu tragen hatte. Erstens musste man ihnen die technischen Möglichkeiten zum Senden belassen und zweitens sollte man sie sich nicht zum Feind machen.
Nein, es gab hier wirklich nicht viele Möglichkeiten, aufmerksamkeitsstarke Aktionen durchzuführen.
Und Dora freute sich auch noch darüber. Unzählige Male hatten sie dieselbe Diskussion geführt. Dora vertrat die Meinung, gewaltfreier Protest würde ernster genommen. Die Öffentlichkeit würde sehen, dass die Demonstranten vernünftige Menschen mit klaren Vorstellungen waren und nicht Rowdies, die mehr wegen der Randale als wegen der politischen Aussage gekommen waren. So ein Schwachsinn. Was für eine Öffentlichkeit denn? Die würden doch gar nichts von den Protesten mitbekommen. Welcher Nachrichtensender sendete denn ein paar Hippies, die sich irgendwo auf eine Straße setzten, über die vielleicht einmal eine wichtige Person fahren würde, vielleicht auch nicht?
Es war Quatsch. Und Doras Überheblichkeit kotzte ihn auch an. Natürlich hatte er sich, bevor er sie kennengelernt hatte, nicht sonderlich für Politik interessiert. Das hatte erst durch sie begonnen. Aber das hieß ja nicht, dass er nicht in der Lage war, sich seine eigene Meinung zu bilden. Besonders, wenn es so offensichtlich war, dass die gewaltfreien Proteste rein gar nichts einbrachten. Dass er mit seinen dreiundzwanzig Jahren zwei Jahre jünger war als sie, stärkte seine Position natürlich auch nicht.
Zwei Kamerateams hatten sie am Vortag gefilmt. Zwei!
Am Tag vor dem Gipfelbeginn hatten sich die Globalisierungsgegner in der Hoffnung, die Mächtigen am Bezug ihres Quartiers hindern zu können, zu einer Sitzblockade auf der einzigen Zufahrtsstraße zum eingezäunten Bereich eingefunden. Von den geschätzten fünfhundert Fernsehsendern vor Ort hatten exakt zwei sie gefilmt. Und dann hatte es die ganz große Überraschung gegeben – etwas, womit wirklich niemand hatte rechnen können: Ihre Zielobjekte waren per Hubschrauber angereist. Passe hatte ernsthaft begonnen, am Verstand seiner Mitstreiter zu zweifeln.
Und jetzt dieses Wetter. Bis hierher konnte er das Tosen der Brandung hören. Das Wüten des Meeres verbunden mit dem landeinwärts wehenden Wind verstärkte den Salzgeruch in der Luft. Der Geruch des Meeres verursachte immer eine leichte Übelkeit bei Passe, seit er als kleiner Junge mal entsetzlich seekrank geworden war. Selbst der Regen vermochte den Salzgeruch nicht aus der Luft zu spülen – nicht einmal dafür war er zu gebrauchen!
Vor zwei Tagen waren sie angereist. Es war ganz nett gewesen. Man hatte gezeltet, gegrillt, Leute kennengelernt. Ganz nett! Aber dafür war er nicht hier. Hatte er vielleicht schon Leute getroffen, die genauso dachten wie er? Mitglieder des Schwarzen Blocks, die sich nur nicht zu erkennen gaben? Er wusste, dass sie stets vermummt waren, wenn sie Randale machten. Vielleicht hatten sie auf dem Zeltplatz Angst, von verdeckten Ermittlern ausgemacht zu werden. Vielleicht gaben sie sich ihm deshalb nicht zu erkennen. Sah er vielleicht aus wie ein verdammter Bulle?
Am liebsten wäre Passe im Zelt geblieben. Aber nach den Regengüssen der letzten zwölf Stunden war es darin auch nicht mehr viel trockener als draußen. Also hatte er sich den anderen angeschlossen und sich zum Kongresszentrum aufgemacht. Dort würde heute der Eröffnungsvortrag des Gipfels stattfinden. Natürlich konnte man nicht bis ganz an das Zentrum heran, doch es war das dem Zaun am nächsten stehende Gebäude, das während des Gipfels genutzt wurde. Tatsächlich trennte lediglich ein großer Parkplatz das Kongresszentrum vom Zaun.
Aber was sollte hier schon groß passieren? Am Zaun entlang hatten unzählige Kamerateams Stellung bezogen. Doch die würden natürlich in der Hoffnung, einen der Mächtigen dieser Welt zu erwischen, ihre Kameras nicht von dem Gebäude abwenden.
Passe seufzte. Hier war einfach nichts zu machen. Kein Wunder, dass sich der Schwarze Block nicht blicken ließ.
3.
Professor Wang Dadongs großer Augenblick war fast gekommen. Sechs Jahre lang hatte er dafür gekämpft, dass die Gefahr von Epidemien auf einem G8-Gipfel thematisiert würde. Nun stand der Moment, auf den er so lange gewartet hatte, unmittelbar bevor. Man würde die Weltöffentlichkeit auf die Gefahr aufmerksam machen. Man würde Notfallpläne erarbeiten. Es würden Forschungsgelder in astronomischen Höhen fließen. Und das Ganze würde verbunden sein mit seinem Namen.
Er war der Eröffnungsredner. Dies würde seine große Stunde werden, er würde Ruhm ernten wie nie zuvor. Und das war schließlich das Einzige, wonach die verlogene Gemeinschaft der Forscher strebte. Forscher gaben vor, dem Fortschritt verpflichtet zu sein, der Wissenschaft dienen zu wollen, und doch lag ihr eigentliches Ziel nur in Ruhm und Rampenlicht. Nicht einen Forscher hatte Wang in seiner langen Laufbahn kennengelernt, der sich nicht gerne selbst reden hörte, und deshalb war er sich sicher, mit Recht von sich auf alle schließen zu dürfen. Er belog wenigstens sich selbst nicht. Er wusste, dass es der Ruhm war, nach dem er strebte, und nicht die Rettung der Menschheit. Aber er würde es niemals jemanden wissen lassen.
Er warf noch einen letzten Blick in sein Manuskript und war zufrieden. Debbie hatte gute Arbeit geleistet – wie eigentlich immer. Sie war die beste Assistentin, mit der er je zusammen gearbeitet hatte, und mit seinen zweiundsechzig Jahren hatte er deren schon einige gehabt. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er in seiner Heimat China geforscht und gelehrt, bevor er einen Forschungsauftrag der University of Minnesota erhalten hatte. Doch selbst in puncto Fleiß und Eifer stach Debbie seine jungen, ambitionierten Landsleute aus – von ihrem Talent ganz zu schweigen. Ihre Art war manchmal ein wenig zu offen, ein wenig zu direkt, doch zumindest war die Zusammenarbeit dadurch stets unkompliziert und Missverständnisse kamen nicht auf.
Trotz der unzähligen Vorträge, die er in seinem Leben bereits gehalten hatte, ergriff Wang eine leichte Nervosität. Er hatte schon vor Regierungschefs und Staatsoberhäuptern gesprochen, aber noch nie vor einer so gebündelten Verdichtung purer Macht wie hier. Sein Puls legte einen Schlag zu und kleine Schweißperlen traten auf seine Stirn. Irgendwie schien es warm zu sein im Kongresszentrum.
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Andreas Hanke überprüfte den ovalen Raum ein letztes Mal mit geschultem Blick. Er mochte den Hauptveranstaltungssaal