Virus. Kristian Isringhaus

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Название Virus
Автор произведения Kristian Isringhaus
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738086386



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hätte man auch schlecht auf den Saal setzen können, denn die Decke war ebenso rund wie der ganze Raum. Im Prinzip glich das Gebäude von außen einem der Länge nach aufgeschnittenen hartgekochten Ei, das auf der Schnittfläche lag. Aufgrund der Nähe zur Ostsee wurde es häufig mit einem gestrandeten Wal verglichen und so hatte sich nach und nach der Spitzname ‚Walfisch’ für das Gebäude eingebürgert.

      Der Architektur des gesamten Komplexes angepasst, bestand der ‚Walfisch’ hauptsächlich aus Glas und Stahl und wurde im vorderen Bereich, in dem die Bühne stand, von einer Halbkuppel aus Stahl und Beton abgeschlossen. Diese Halbkuppel diente dem einfachen Zweck, kein natürliches Licht von hinter der Bühne zuzulassen. Zudem vereinfachte sie die Installation der nötigen Lichttechnik und das elegante Verbergen der Kilometer von Kabel.

      Um eine völlige Überhitzung bei massiver Sonneneinstrahlung zu verhindern und Beamerprojektionen auch am Tage zu ermöglichen, konnte jede der über vierhundert Glasscheiben individuell mit Jalousien verdunkelt werden. Zwar ließ das Dunkelgrau des Himmels an diesem Dienstagnachmittag nicht allzu viel Licht durch, während der impertinente Dauerregen für genug Abkühlung sorgte, doch auch heute waren sämtliche Jalousien zugezogen. Zu nah stand das Gebäude am Zaun und damit an den gierigen Kameras der Nachrichtenteams. Künstliches Licht erhellte den Saal.

      Hanke war mit den Kollegen alles zigmal durchgegangen. Der ovale Saal war leicht zu überblicken. Vorne befand sich die Bühne, nach etwa fünf Metern fingen die Sitzreihen an. In der ersten Reihe würden die Regierungschefs sitzen, zwei Reihen dahinter er und seine ausländischen Kollegen. Aber das würde niemandem auffallen. Die Personenschützer der Staatsoberhäupter fielen überhaupt nie jemandem auf, der kein geschultes Auge dafür hatte. Sie waren nahezu unsichtbar und doch immer in der Nähe.

      Die Personenschützer des BKA konnte man nicht mit Bodyguards von Prominenten oder gar mit Türstehern einer Diskothek vergleichen. Ihre Körperkraft zeigte sich nicht in Muskelbergen und ihr Haarschnitt war unauffällig und durchschnittlich, anstatt angsteinflößend und bedrohlich. Sie trugen gut sitzende Anzüge und fügten sich stets perfekt in das übliche Bild eines gewöhnlichen Staatsempfangs ein.

      Rechts neben der Bühne war der Notausgang für den Fall der Fälle. Er war nicht als solcher gekennzeichnet und niemandem außer den Regierungschefs und ihren Bewachern bekannt. Dies war der Fluchtweg für die Mächtigen.

      Es gab immer einen Notfallfluchtplan, der die üblichen Fluchtwege der Massen umging, aber schon lange hatte Andreas Hanke nicht mehr darauf zurückgreifen müssen. Natürlich hatte es Attentatsversuche gegeben, aber immer waren seine Kollegen frühzeitig zur Stelle gewesen und hatten den Attentäter ausgeschaltet, lange bevor er seinen Anschlag versuchen konnte. Obwohl er sich sicher war, dass sich daran auch heute nichts ändern würde, waren seine Konzentration und Anspannung voll da, denn ein einziger Fehler von ihm könnte im Ernstfall den Tod der Kanzlerin bedeuten.

      Doch das würde nicht passieren. Es gab nichts, was ihn noch überraschen konnte, dafür war er einfach schon zu lange dabei. 1995 hatte er sich um die Stellung eines Personenschützers beworben. Man hatte ihn angenommen und ihm erlaubt, das knüppelharte Training zu durchlaufen. Nach ein paar Jahren des Profilierens hatte er 1998 mit der Wahl des neuen Kanzlers dessen Schutz übernommen, und als dieser 2005 abgelöst wurde, hatte die neue Kanzlerin Hanke wegen seines exzellenten Rufs in ihren Stab an Personenschützern aufnommen.

      Die Gefahr hatte sich ein wenig gewandelt. Während der Ex-Kanzler sich mit seiner Politik und den nicht eingelösten Wahlversprechen eher Feinde im eigenen Land gemacht hatte, setzte sich die neue Kanzlerin mit ihrer freundlichen Haltung gegenüber Amerika eher dem Hass internationaler Terroristen aus. Die Aufgabe jedoch war die gleiche geblieben: ein Leben beschützen – zur Not im Tausch gegen das eigene.

      Er testete ein letztes Mal die Funkverbindung.

      „Am Eingang alles klar?” Er flüsterte die Frage unauffällig und nahezu ohne seine Lippen zu bewegen in ein winziges Mikrofon in seinem Revers.

      „Alles klar”, war die prompte Antwort auf seinem kleinen, unsichtbaren Knopf im Ohr.

      „Wie sieht’s auf dem Dach aus?”

      Fünf Scharfschützen waren auf dem Dach des ‚Seeadlers’ postiert und überwachten von hier aus das Dach des ‚Walfischs’ und die Umgebung.

      „Hier oben ist auch alles klar.”

      Befriedigt blickte Hanke zur Bühne, die soeben vom Moderator betreten wurde. Es ging los.

      –––––

      Das Stimmengewirr, das gedämpft hinter die Bühne drang, ebbte ab. Nur noch Augenblicke. Wang tupfte sich ein letztes Mal den Schweiß von der Stirn. Dann hörte er, wie er angekündigt wurde, gefolgt von höflichem Applaus. Seinem Applaus. Er fühlte, wie ihn eine Gänsehaut überkam, eine Gänsehaut der angenehmen Art.

      Debbie rückte seinen Krawattenknoten zurecht.

      „Good luck, Professor.”

      Er trat auf die Bühne. Seine Bühne. Sein großer Auftritt. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Wang warf einen ausschweifenden Blick in die Runde und sog die Atmosphäre in sich auf. Er konnte die Macht förmlich fühlen, die sich hier versammelt hatte, und die Tatsache, dass die Mächtigen sich seinetwegen hier eingefunden hatten, gab ihm ebenfalls Macht. Er absorbierte sie, fühlte sie durch seinen Körper strömen und genoss sie für einen Moment. Er wollte sichergehen, dass er dieses Gefühl niemals vergessen würde.

      Im Saal erkannte er neben der versammelten Macht der Gruppe der Acht auch Vertreter aus einigen asiatischen Ländern, denn das Zusammenleben von Hühnern, Schweinen und Menschen in vielen asiatischen Kulturen war ein nicht zu verachtender Faktor für die Mutation und Verbreitung gefährlicher Viren. Zudem blickte er auf die Crème de la Crème seiner Kollegen herab, ihre neidvollen Gesichter, voller Eifersucht, Missgunst und vielleicht sogar Hass. Ihr Neid verstärkte sein Gefühl von Macht noch. Trotz ihres Hasses waren sie gezwungen, zu ihm aufzublicken.

      Zu guter Letzt sah Wang einige Journalisten, nicht viele allerdings. Ausschließlich handverlesene Wissenschaftsjournalisten hatten eine Akkreditierung für diese Veranstaltung erhalten. Die gemeine Presse war im gesamten eingezäunten Bereich ebenso wenig zugelassen wie Fernsehsender. Doch während diese durch das Kamerateam der Regierung mit Material versorgt wurden, war die schreibende Zunft ausschließlich auf Pressemitteilungen angewiesen.

      Wang atmete tief durch. So schlecht sein eigenes Englisch auch war, so gut vermochte er doch, mit einem einstudierten Vortrag seine Zuhörer zu fesseln. Es war Routine für ihn. Er trat ans Mikrophon in der Mitte der Bühne. Nur etwa anderthalb Meter über ihm hing eine zur Lichtinstallation gehörige Metallkugel von der Größe eines Basketballs. Der Spot war auf ihn gerichtet.

      Er räusperte sich, doch in eben jenem Augenblick erschütterte ein gewaltiger Donnerschlag das Gebäude. Ein Murren ging durch das Publikum. Wang war zu routiniert, um sich diese Gelegenheit für einen kleinen Scherz entgehen zu lassen. Es ging nichts über ein lockeres Publikum.

      Er klopfte sich auf die Brust, räusperte sich erneut und sagte in gebrochenem Englisch: „Klingt wie Erkältung kommen.”

      Das Publikum lachte laut auf. Er hatte die Menschen im Griff.

      Doch mitten in dieses kurze Gelächter hinein ertönte plötzlich ein langgezogener, lauter Ton – ein Ton, wie ihn keiner der Anwesenden je gehört hatte. Er war schrecklich und wundervoll zugleich, am ehesten vielleicht noch mit dem einer Posaune vergleichbar, aber doch anders. Ein unbeschreiblich schöner Klang, doch durch seine Fremdartigkeit und Deplatziertheit auch ebenso grauenvoll wie Angst einflößend. Es war unmöglich, dass auch nur einer der Anwesenden keine Gänsehaut hatte.

      Wang verstand nicht. Dies war sein großer Auftritt, sein Moment. Was passierte hier? Gerade noch hatte das Publikum über seinen Witz gelacht und jetzt dieser Ton. Eine Sirene? Ein übler Scherz eines neidischen Konkurrenten? Fassungslos blickte er zu Debbie hinunter, die am Rand der Bühne stand. Doch Debbie zuckte nur die Schultern. Auch sie wusste den Ton nicht einzuordnen.

      –––––